Angelique Kerber nach Einzug ins Halbfinale völlig gelöst: "Ich spüre den Druck nicht mehr"
Angelique Kerber reitet bei den Australian Open weiter auf der Erfolgswelle und steht im Halbfinale von Melbourne. Die wiedergewonnene Lust und der neue Umgang mit Druck haben aus der Kielerin längst die Titelanwärterin Nummer eins gemacht.
von Ulrike Weinrich
zuletzt bearbeitet:
24.01.2018, 11:01 Uhr
Von Ulrike Weinrich aus Melbourne
Den Fragen nach ihrer Rolle als Turnierfavoritin maß Angelique Kerber auch nach einer weiteren beeindruckenden Demonstration ihrer wiedererlangten Stärke keine allzu große Bedeutung bei. "Den Druck mache ich mir nicht mehr, den habe ich mir letztes Jahr gemacht", sagte sie, "und das war, was mir am meisten im Weg stand."
Die "Angie 2.0" denkt nach einer schmerzhaften, aber wohl unausweichlichen Entwicklungsphase 2017 positiv und ist selbstbewusst. "Ich bin stolz, wie die letzten Wochen gelaufen sind", meinte Kerber nach dem 6:1, 6:2 im Viertelfinale gegen Madison Keys. Die 51-minütige Lehrstunde in der Rod Laver Arena wird die US-Open-Finalistin aus Florida so schnell nicht vergessen. "Sie hat heute aggressiver gespielt als jemals zuvor gegen mich. Darauf hatte ich keine Antwort", lobte Keys den souveränen Auftritt von Kerber in ihrem Wohnzimmer. Es war ihr 14. Sieg im 14. Match 2018 - und die Tageszeitung The Age schrieb: "Kerber zerstörte Keys und ist jetzt sicherlich die Favoritin auf den Turniersieg."
Rittner: "Wenn sie locker bleibt, ist Angie die beste Spielerin im Feld"
Im Match um den Sprung in ihr erstes Major-Finale seit September 2016 trifft die 30-Jährige bereits am Donnerstagmittag Ortszeit auf die topgesetzte Rumänin Simona Halep, die in ihrem Viertelfinale Karolina Pliskova aus Tschechien (Nr. 6) mit 6:3, 6:2 bezwang. In der anderen Vorschlussrundenpartie stehen sich die Dänin Caroline Wozniacki (Nr. 2) und die ungesetzte Turnier-Debütantin Elise Mertens (Belgien) gegenüber.
Barbara Rittner jedenfalls glaubt fest an die Fortsetzung der Kerber-Festspiele im australischen Hochsommer. "Angie wirkt souverän und spielt frei auf. Wenn sie es schafft, so locker zu bleiben, ist sie die beste Spielerin im Feld. Aber natürlich wird es nicht leichter...", sagte Rittner, Head of Women's Tennis im DTB, am Mittwoch im tennisnet-Interview. Die frühere Fed-Cup-Chefin genießt jeden Auftritt der früheren Nummer eins: "Es macht so viel Freude, sie so befreit zu sehen nach dem schwierigen Jahr 2017", so Rittner.
Endlich wieder "in der Zone" unterwegs
Kerber ist endlich wieder im Genuss-Modus. Es ist ein Zustand, den sie in der vergangenen Saison mit allen Mitteln erzwingen wollte, dabei aber immer mehr verkrampfte. Ein Teufelskreislauf. Mittlerweile ist sie "zu 100 Prozent sicher", dass sie in der Off-Season die "richtigen Entscheidungen" getroffen hat. Dazu gehörte unter anderem der Trainerwechsel hin zu Wim Fissette. Hin zu einer neuen Ansprache, für die sie erst bereit sein musste. Kein leichtes Unterfangen, doch Kerber öffnete sich sukzessive für den Input. Und wird jetzt belohnt. "Angie ist in einer Verfassung, in der sie immer, in jeder Phase eines Spiels, unbedingt an sich glaubt", lobte der Belgier Fissette, der im Team mit Kerber noch ungeschlagen ist.
Die Linkshänderin hat das Zutrauen in ihr Spiel wiedergefunden. Auch, weil es ihr gelingt, sich mental in der Zone zu bewegen, wie es Profisportler gerne nennen. "Ich mache mir während des Spiels nicht zu viel Gedanken und denke nicht an das, was war und was kommt", berichtete Kerber. Die Sydney-Gewinnerin weiß, dass sie auch wieder die engen Matches gewinnen kann und auf die große Bühne zurückgekehrt ist.
Kerber als "Titelheldin" auf dem Cover - vielleicht ein gutes Omen
Vielleicht ist es kein Zufall, dass der zweimaligen Major-Championesse die Wende ausgerechnet in Australien gelungen ist. An dem Ort, an dem Kerber vor zwei Jahren ihre ganz persönliche Mondlandung hinlegte. "Es ist immer wichtig für mich, dass ich mich auch außerhalb des Platzes wohlfühle", sagte "Angie", die sich in Melbourne bestens auskennt. Der Yarra River, die schönen Cafés im Stadtkern, dazu die hohe Wertschätzung bei den Fans. Das Gesamtpaket stimmt Down Under. Ein Bonus außerdem: Durch ihren Halbfinaleinzug kehrt sie nach dem Happy Slam wieder in die Top Ten zurück und ist wieder die deutsche Nummer eins vor Julia Görges.
Kerber gehört längst schon zu den Gesichtern der Aussie Open 2018. Direkt vor der Rod Laver Arena steht eine große Werbewand, auf der sie zusammen mit dem spanischen Superstar Rafael Nadal für das offizielle Videospiel des Turniers wirbt. Es passt ins Bild, dass sich die Kielerin als "Titelheldin" auf dem Cover mit äußerst angriffslustiger Miene zeigt. Die Orientierungslosigkeit und Leere, die sie im vergangenen Jahr lähmten, sind einer neuen Lust auf weitere Großtaten gewichen. "2017 war ein Lernprozess für mich", sagt Kerber. Ein schmerzhafter zwar, aber vielleicht die Basis für neue Höhenflüge.