Berdych fordert Nadal
Tomas Berdychs Traum geht weiter. Er könnte erster tschechischer Wimbledon-Sieger werden. Im Finale wartet Rafael Nadal.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
02.07.2010, 20:51 Uhr

Von Jörg Allmeroth
Ein Mann von der Insel, reif für den Titel: Auch 74 Jahre nach Fred Perrys Wimbledonerfolg kann diese lang erträumte, heiß ersehnte Tennis-Geschichte für Großbritannien noch immer nicht geschrieben werden. Als Andy Murray, der Schlagzeilenheld der Gastgebernation, am Freitagabend als erster Spieler den vollgepackten Centre Court verließ, da war er nämlich nur zweiter Sieger im umkämpften Halbfinale der Offenen Englischen Meisterschaften geblieben – 4:6, 6:7 (6:8) und 4:6 geschlagen von Rafael Nadal, dem Matador aus Mallorca, der sich wie schon vor zwei Jahren in der Runde der letzten Acht als ebenso netter wie unerbittlicher Spielverderber für den jungen Schotten und das ganze Vereinigte Tennis-Königreich entpuppte.
Stoppt Nadal den momentan beängstigend starken Berdych?
Statt des frustrierten Lokalmatadors kämpft nun Nadal am Sonntag ab 15 Uhr MEZ gegen den Tschechen Tomas Berdych um den Hauptpreis des Wanderzirkus, um den Pokal aller Pokale. Berdych hatte seiner beängstigend guten Form in der zweiten, prickelnden Grand Slam-Woche mit dem 6:3, 7:6 (11:9) und 6:3-Sieg im ersten Halbfinale des Tages gegen Novak Djokovic vorläufig die Krone aufgesetzt. Der harte, elegante Draufschläger hatte schon am Mittwoch für die bisher größte Turniersensation gesorgt, als er den langjährigen Wimbledon-Beherrscher Roger Federer mit kühler Souveränität in vier Sätzen in den vorzeitigen Sommerurlaub geschickt hatte.
Britische Hoffnung glaubt nicht an sich selbst
Nadal sicherte sich seinen vierten Wimbledon-Finaleinzug in Serie (er setzte 2009 wegen einer Knieverletzung aus) ohne allzu große Brillanz, aber mit der Erfahrung und Klasse eines Mannes, der selbst in jungen Jahren schon Dutzende dieser spannungsgeladenen Matches auf höchstem Niveau gespielt hat – ob bei Grand Slams, Masters-Turnieren oder im Davis Cup. Immer wenn das Spiel auf der Kippe stand, wenn ein Satz in die entscheidende Phase ging oder ein Tiebreak anstand, war Nadal präsenter, willensstärker, einfach der entschlossenere Mann. „Bei Murray hat man immer das Gefühl: Er glaubt gar nicht wirklich, gewinnen zu können. Bei Nadal ist das genau umgekehrt“, sagte Boris Becker am BBC-Mikrofon. Auch Rückstände machte der Spanier mühelos wett, bei dem von Verletzungsbeschwerden nichts zu sehen war.
Nadal auf den Spuren von Becker und Co.
Zum zweiten Mal in seiner Karriere - nach der Vertreibung Federers aus dessen Wimbledon-Paradies 2008 – kann Nadal nun das begehrte Double gewinnen – den Doppelschlag mit dem Gewinn der Titel bei den French Open und Wimbledon. In die Reihe der großen Spieler, die hintereinander in vier Finals gelangten, fügte sich der bullige Fighter schon einmal prächtig ein, bisher hatten das nur Pete Sampras, Roger Federer, Boris Becker, John McEnroe und Björn Borg geschafft. „Dieses Endspiel zu erreichen, ist jedes Mal wie ein großes Geschenk. Ich bin stolz, dass ich es gegen alle Zweifel und Widerstände geschafft habe“, sagte Nadal.
Berdychs Traum noch nicht zu Ende
Doch nach Berdychs zweiter Glanzvorstellung binnen 48 Stunden hat das ultimative Pokalduell der Tennissaison am Sonntag keinen klaren Favoriten – schließlich haben bei diesen verrücktesten „Championships“ seit Jahren weder Ranglistenplätze noch Hackordnungen viel gegolten. „Mein Traum ist noch nicht zu Ende“, sagte Berdych, als er nach Federer, der Nummer 1 der Setzliste, nun auch noch Djokovic (Nummer 3) wohlverdient auf die Heimreise geschickt hatte. Berdychs Rezeptur für den Erfolg ist simpel, aber höchst effektiv: Wuchtige, geradlinige Aufschläge. Schnörkelloses, technisch sauberes Spiel.
Der ewig Talentierte ist erwachsen geworden
Und erstmals in seiner Karriere auch gute Nerven – die Qualität, in den entscheidenden Momenten einer Partie nicht zurückzuzucken, sondern noch einmal zuzulegen und dem Gegner seinen Willen zu diktieren. Ausgerechnet auf der größten Tennisbühne der Welt wirkte Berdych auf einmal nicht mehr wie der ewige Talentierte, sondern wie ein Champion mit ganz praktischem Potenzial für Grand Slam-Lorbeer. „Wir alle wissen schon lange, was er kann. Nur jetzt zeigt er es den Zuschauern und vor allem sich selbst“, sagte Ex-Superstar John McEnroe.
Kühler Kopf statt Flatterhaftigkeit
Auch in der kritischsten Phase der Partie geriet Berdych nicht auf Schlingerkurs, obwohl der Flirt mit dem Desaster ein Leichtes gewesen wäre – im wegweisenden Tiebreak des zweiten Aktes, als Berdych eine 6:2-Führung und vier Satzbälle hintereinander gegen Djokovic verschenkte. Aber Berdych, oft genug ein Meister der Flatterhaftigkeit, behielt in der Lotterie des Tennis-Elfmeterschießens kühlen Kopf und siegte mit 11:9 gegen Djokovic, der danach deprimiert und matt wirkte.
"Gras ist nur was für Kühe" - und was für Berdych?
Im dritten Satz führte Berdych, der einst mit seinem Sieg gegen Roger Federer bei den Olympischen Spielen in Athen erstmals auf seine Qualitäten aufmerksam gemacht hatte, besonnen Regie und erstickte jeden Ansatz einer Djokovic-Rebellion schon im Keim. „Ich träumte wie jeder kleine Junge davon, einmal im Wimbledon-Endspiel zu sein“, sagte Berdych später. Was seinem großen Landsmann (und späteren US-Bürger) Ivan Lendl niemals gelang, ein Sieg auf dem Heiligen Rasen, das kann nun er schaffen. „Gras ist nur etwas für Kühe“, hatte Lendl einst nach seinem letzten gescheiterten Anlauf in SW 19 grimmig behauptet. Vielleicht ist es aber auch etwas für Berdych, den Karriere-Spätzünder.(Fotos: J. Hasenkopf)