Der Einfluss von Novak Djokovic auf den Erfolg von Jannik Sinner
Novak Djokovic mag noch der Platzhirsch im Welttennis sein. Aber Jannik Sinner holt rasant auf. Auch dank des Djokers, wie der Tennis-Insider Marco Kühn meint.
von Marco Kühn
zuletzt bearbeitet:
13.03.2024, 19:00 Uhr
Sie bieten einen speziellen Einblick. Court-Level-Videos auf YouTube schaffen einen einmaligen Blick auf die Profis. Allen voran, wenn man sich ein bisschen was abschauen möchte. Bei Jannik Sinner kann sich der Clubspieler derzeit eine ganze Menge abschauen. Dieser gesamte Artikel wird mit kleinen Tipps für das eigene Spiel gespickt sein. Doch wir drehen zunächst ein wenig die Zeit zurück.
Es ist noch nicht lange her, da war Jannik Sinner "nur" der Junge mit den harten Schlägen. Zu schmal, um körperlich mit den besten Spielern in epischen Matches mithalten zu können. Zwischen den Ballwechseln sah es so aus, als würde er zum Handtuch in der Platzecke humpeln.
Diese Zeiten sind vorbei. Die Weltrangliste verrät es noch nicht. Aber Jannik Sinner ist der derzeit beste Tennisspieler der Welt. Das zeigen nicht nur die Ergebnisse. Die Entwicklung des jungen Südtirolers ist in den letzten Monaten rasant gewesen. Er humpelt nicht mehr. Und er spielt einen Stil, den sein Trainer Simone Vagnozzi in einem Interview wie folgt ankündigte:
"Novak ist ein Vorbild, ein außergewöhnlicher Champion, das war er schon immer. In diesem Winter (2023) haben wir versucht, ein bisschen Djokovic in Jannik zu bringen, angefangen bei der Taktik. Nole spielt während des Matches immer Schach, er weiß, wo er jeden Schlag platzieren muss und welcher Schlag einen Gegenschlag provoziert."
Wir werden uns jetzt genauer anschauen, wie Novak Djokovic Einfluss auf die neue Spielweise von Jannik Sinner nahm, ohne dies gewollt zu haben.
Wie stellte Jannik Sinner seine Taktik um?
Wir haben vor ein paar Zeilen darüber gesprochen. Jannik war für seine mächtigen Grundschläge bekannt. Vor- und Rückhand kann er aus nahezu allen Positionen des Courts feuern. Es gibt kein Tempo, das ihm zu hoch ist. Wer ein hohes Tempo spielt, der neigt dazu in der Rally jeden Schlag ein Stück härter schlagen zu wollen. Das findet meist unbewusst statt. Es ist nicht selten, dass man dann beim dritten oder vierten Schlag überpowert. In großen Matches um große Titel entscheidet nicht die Härte der Vorhand, sondern die Fähigkeit geistig klar den richtigen Schlag im richtigen Moment zu spielen, über Sieg oder Niederlage.
Jannik Sinner und sein Trainerteam haben daran gearbeitet, die sogenannte Shot-Selection von Jannik zu verbessern. Die Wahl, welchen Schlag er zu welchem Zeitpunkt der Rally spielt, ist eine neue Stärke in seinem Spiel. Er prügelt nicht mehr jeden Ball so hart wie möglich, so nah an die Linien wie möglich, über das Netz. Es scheint nicht mehr das Ziel zu sein hart, sondern klug zu spielen. Das ist eine Veränderung, die ihren Ursprung in der inneren Haltung zur eigenen Taktik besitzt. Aus der inneren Stimme: "Ich muss den Punkt erzwingen!" wurde ein: "Ich gebe dem Gegner mehr Chancen, den Fehler zu machen!".
Das ist nur eine kleine Veränderung in der Denkweise über seine Taktik. Dieser kleine Hebel hatte aber einen recht guten Einfluss auf seine Matchbilanz.
Was hat Jannik Sinner von Novak Djokovic übernommen?
Ein bisschen Novak in Jannik bringen. Das war die Zielsetzung im Winter. Bereits in Australien durfte sich die Tenniswelt dann anschauen, was dies genau bedeutete.
Es muss dem Djoker im Halbfinale wie ein B-Movie vorgekommen sein. Denn im Kern spielte er gegen sich selbst. Auch wenn Jannik Sinner seine Taktik in den nachfolgenden Interviews nicht verraten wollte. Es war auffällig, wie kontrolliert, ruhig und stoisch Sinner immer wieder in die Mitte des Courts spielte. Eine Taktik, die dem Djoker zahllose wichtige Siege brachte. Sinner ließ dem Djoker das Match gestalten. Er gab ihm die Aufgabe, die Ballwechsel zu diktieren. Dazu gehören die Richtung und das Tempo der Schläge. Exakt das, was Djokovic eigentlich spielt.
Ein weiteres taktisches Detail, das Jannik von Novak Djokovic übernommen hat, ist der Return. Selbstverständlich bleibt der Djoker der beste Returnspieler aller Zeiten. Das ist für andere Spieler aber auch Grund genug, sich etwas bei ihm abzuschauen. Am besten Prinzipien, die man für sein eigenes Returnspiel übernehmen kann. Ein entscheidendes Prinzip für die Returnstärke vom Djoker ist der lang, mittig und vor die Füße gespielter Return. Niemand besiegt den Djoker in dieser Disziplin. Sinner aber hat das reine Prinzip, ein langer und mittig, mit Kontrolle gespielter Return, für sich übernommen.
Hier sehen wir erneut ein bisschen Novak in Jannik.
Warum spielt Sinner so konstant stark?
Er bleibt seiner Taktik treu. Stur zu sein, kann im Tennis eine Stärke sein. Sich nicht von seinem Plan abbringen zu lassen. Seine Emotionen zu kontrollieren, ohne dabei zu positiv oder zu negativ zu sein. Egal, wie der Gegner spielt. Jannik übertreibt es nicht. Er spielt weder zu passiv, noch zu aggressiv.
Der Gegner kann eine unheimlich starke Phase haben. Sinner bleibt cool, entspannt und spielt sein Spiel weiter. Das hat man hervorragend im Halbfinale der Australian Open sehen können. Djokovic hatte bessere Phasen in diesem Match. Aber Sinner machte einfach weiter. Er ließ sich nicht beeindrucken. Er hielt dem Sturm des Djokers Stand.
Tiefer Körperschwerpunkt, volle Kontrolle über das Tempo seiner Schläge, dem Gegner Chancen zu Fehlern geben. Zupacken, wenn es die Situation in der Rally erlaubt.
All diese Eigenschaften könnte man auch problemlos Djokovic zuschreiben. Das Team um Jannik Sinner hat eine kleine taktische Meisterleistung vollbracht, die dem Spiel des Italieners eine ganz neue Würze gegeben hat.
Was uns um den Netzpfosten herum zu der jetzt folgenden Frage führt.
Wird Jannik Sinner einbrechen?
Die Konkurrenz hat eine schwierige Aufgabe. Sie müssen den Sinner-Code knacken. Wie will man ihm beikommen? Einem Spieler, der das Prinzip "keine Schwächen zu haben" neu definiert hat. Trotz seiner Körpergröße bewegt er sich herausragend. Er ist athletischer geworden, schneller und fitter. Er kann auch aus der Defensive heraus innerhalb von einem Schlag wieder in die Offensive wechseln.
Das Attacke-Tennis setzt voraus, im Angriffssturm wenig Fehler zu machen. Das kann vor allem beim Grand Slams, über drei Gewinnsätze, eng werden. Eine zu passive Spielausrichtung lädt Sinner ein aggressiv zu spielen, was er selbstverständlich immer noch kann.
Sinner ist jetzt alles andere als ein Defensivspieler, der vier Meter hinter der Grundlinie jeden Ball ausgräbt. Er spielt einfach klüger. Er spielt mehr Schach.
Fazit
Jannik Sinner hat die großen Stärken seines größten Konkurrenten analysiert und für seine Spielweise adaptiert. Er hat aus Niederlagen gelernt, um ein kompakterer, klügerer und besserer Spieler und Charakter auf dem Platz zu werden.
Was können wir als Clubspieler von Jannik Sinner und Novak Djokovic mitnehmen?
* Kontrolle ist wichtiger als den Ball immer härter zu schlagen
* Das Spiel durch die Mitte, mit guter Länge, ist eine simple und effektive Taktik
* Der Return hat nur ein Ziel: Dem Gegner einen schweren Schlag direkt nach dessen Aufschlag zu geben. Eine Aufgabe, die er gut lösen muss
* Eine gute Taktik gibt dem Gegner Chancen, Fehler zu machen