Die Vorbotin der russischen Revolution tritt ab
Die Olympiasiegerin von 2008 gibt in Doha überraschend ihren Rücktritt bekannt.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
30.10.2010, 12:21 Uhr

Von Jörg Allmeroth
Ziemlich geheimnisvoll bat die WTA Tour am Freitagabend ihren gesamten Tennistross um "unbedingte Anwesenheit" - wegen einer "sehr wichtigen Ankündigung" nach dem eigentlichen bedeutungslosen Vorrundenspiel zwischen Italiens Altvorderer Francesca Schiavone und Elena Dementieva. Was sich hinter der mysteriösen Aufforderung verbarg, erfuhren Mitspielerinnen, Spitzenfunktionäre, Schiedsrichter, Journalisten und Zuschauer dann schlagartig nach dem letzten Ballwechsel der Partie im Khalifa Sports Complex: Dementieva, die Olympiasiegerin des Jahres 2008 in Peking, beendet ihre Karriere mit sofortiger Wirkung. "Das war heute mein letztes Profimatch. Es ist ein schwerer Moment für mich", sagte die 29-Jährige mit feuchten Augen. Und kaum hatte die sympathische Blondine diese Worte ausgesprochen, sah man unter den Kolleginnen und WTA-Leuten gleich nur noch tränenreiche Gesichter – ein einziges Heulen und Bedauern über diesen überraschenden Schritt Dementievas weg vom Tennis und hinein in ein zweites Leben.
Die besten Bilder einer emotionalen Abschiedszeremonie in Doha:
Die allerbesten Jahre der hochintelligenten Russin, die vier Sprachen beherrscht und neben dem Tennis auch schon einmal ein Politik-Fernstudium absolvierte, liegen bereits etwas zurück: 2004 erreichte sie sowohl das Finale der French Open wie auch das Endspiel bei den Offenen Amerikanischen Meisterschaften in New York, verlor aber beide Duelle. Ihre damalige Paris-Gegnerin Anastasia Myskina trat schon vor geraumer Zeit zurück, sie ist inzwischen bereits Mutter und kommentiert Tennisspiele für das russischen Fernsehen. "Ich möchte auch bald eine Familie haben", sagte Dementiewa, "ich denke, ich habe den idealen Augenblick für einen Rückzug erwischt. Man soll nicht gehen, wenn die Leute den Kopf über einen schütteln." Bereits zu Saisonbeginn hatte sich die 29-Jährige zum Abschied aus dem Wanderzirkus entschlossen, bewahrte ihre Absicht aber eisern unter Verschluss. Vor einigen Monaten hielt sie in Paris eine bemerkenswerte Laudatio auf die Französin Amelie Mauresmo, die damals ihren Rücktritt erklärt hatte. "Das war schon ein wenig kurios. Nur ich allein wusste, dass mir das ganze Prozedere auch bald bevorstand."
Als Dementieva in die Weltklasse aufrückte, zur Jahrtausendwende, war die Präsenz russischer Spielerinnen in den Gipfelregionen dieses Sports noch ein exotischer Vorgang. Myskina und Dementieva, die beiden anfangs namhaftesten Hauptdarstellerinnen, wurden – wie sich zeigte – zurecht aber auch als Vorbotinnen einer russischen Revolution in der Branche bezeichnet, ganz einfach deswegen, weil überall in den Drillakademien des Tennis junge, hungrige Talente aus dem Riesenreich nachdrängten. Heute dominieren Spielerinnen aus dem Osten Europas und eben aus Russland den Nomadenbetrieb, und nun mutet es fast schon sensationell an, wenn einmal eine Nummer 1 der Welt aus dem Westen kommt. "Du warst ein Vorbild für viele junge Spielerinnen. In Russland, aber auch in der ganzen Welt", rief Landsfrau Vera Zvonereva der scheidenden Dementieva auf dem Centre Court von Doha zu – die jüngere Russin kann schon bald etwas schaffen, was der Älteren nicht gelang: Der Sprung an die Spitze der Hackordnung.
2003 gewann Dementieva ihr erstes WTA-Turnier, in Amelia Island. Daran erinnerte sie sich am Abend ihres Rücktritts noch sehr genau: "Ich schlug im Halbfinale Henin. Und dann im Endspiel Lindsay Davenport. Wer könnte das schon vergessen?" Weitere 15 Titel folgten, aber eben nicht der Grand-Slam-Coup, den ihr fast alle im Tennisgeschäft zutrauten. Dementieva hatte die Schläge, das Talent für solch einen Titel, aber nicht die Psyche, die es dazu erst recht braucht. Fast notorisch war sie für eine Flatterhaftigkeit in kritischen Situationen bekannt, litt zudem unter einem mittelmäßigen Aufschlag, der ihr kaum je Vorteile bescherte. Immerhin: 2008 folgte der größte Erfolg, bei den Olympischen Spielen in Peking, bei denen sie Landsfrau Dinara Safina bezwang. Den entscheidenden Schritt hatte sie zuvor mit einem Sieg über Serena Williams im Viertelfinale getan. "Ich hatte eine schöne Zeit im Tennis. Und nun freue ich mich auch auf ein neues Leben", sagte Dementiewa am Freitagabend.(Foto: Jürgen Hasenkopf)