French Open 2020: Diego Schwartzman - der kleine Gigant von Paris
Diego Schwartzman hat mit seinem epischen Viertelfinal-Erfolg gegen Dominic Thiem erstmals die Vorschlussrunde eines Grand-Slam-Turniers erreicht. Am Freitag wartet dort bei den French Open 2020 der zwölfmalige Sieger Rafael Nadal.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
07.10.2020, 22:18 Uhr
An den Arztbesuch daheim in Buenos Aires kann sich Diego Schwartzman noch „sehr, sehr gut“ erinnern. Es war einer der prägendsten Momente seiner ganzen Kindheit. 13 Jahre alt war Schwartzman damals, ein schmächtiges Bürschchen. Und wie immer in seinem Leben ging es auch im Behandlungszimmer des Mediziners schon um die Körpergröße. „Ich wollte einfach wissen, wie groß ich mal werden könnte“, sagt Schwartzman, „und da sagte der Doktor: Nicht größer als 1,70 Meter.“ Er sei den Tränen nahe gewesen, so Schwartzman, „ich dachte, es ist vorbei mit meinem Tennis. Mit einer großen Karriere.“
Von wegen.
Als Schwartzman am frühen Dienstagabend zum Centre Court-Netz in Paris schlich, nach einem imposanten Fünf-Satz-Sieg gegen US Open-König Dominic Thiem, nach einer mitreißenden Schlacht über fünf Stunden und acht Minuten, da stand er erstmals im Halbfinale eines Grand-Slam-Turniers. Und nicht nur das: Diego Sebastian Schwartzman, dieser kleine, große Mann mit 167 Zentimetern vom Scheitel bis zur Sohle, war mit diesem Triumph auch erstmals in seiner Karriere in die Top Ten aufgerückt. Nun durfte sich Schwartzman ein weiteres Mal in seinem Tennisleben der Herausforderung gegen Sandplatz-Matador Rafael Nadal stellen – beim Masters-Turnier in Rom, dem letzten bedeutenden Vorbereitungswettbewerb auf Roland Garros, hatte „Grande Diego“ (La Nacion) den Mallorquiner im Viertelfinale glatt in zwei Sätzen abserviert. Zum ersten Mal nach acht Niederlagen in acht Matches zuvor. „Diego ist ein Superspieler, ein wunderbarer Mensch“, sagt Nadal über den Südamerikaner, der in der Corona-Pause über viele Wochen in der Tennis-Akademie Nadals auf Mallorca trainiert hatte.
Schwartzman als unverwüstlicher Kämpfer
Seit vielen Jahren nimmt es der kleinste Weltklassespieler der Wanderzirkus, benannt nach Fußball-Superstar Diego Maradona, regelmäßig mit den Großen und Starken der Branche auf – mit all jenen, die knapp unter zwei Metern oder auch mal darüber messen. Es gibt viele lustige Bilder, in denen Schwartzman nach dem Matchende, beim obligatorischen Handshake, in luftige Höhe zu seinem Gegenüber blickt, schräg nach oben. Oft überragen den Argentinier sogar die zum Einsatz abgestellten Ballmädchen und -jungen. „Es ist halt die ewige David gegen Goliath-Geschichte bei mir“, sagt Schwartzman, „es hilft aber nichts, über die Größe zu jammern. Ich habe gelernt, das Beste daraus zu machen.“ Schließlich, so Schwartzman, „werde ich nicht eines Tages aufwachen und so groß sein wie Zverev oder John Isner.“ Der Amerikaner, wohlgemerkt, ist knappe zwei Köpfe größer, 2 Meter und 8 Zentimeter.
Schwartzmans Geschichte ist die Geschichte eines Aufstiegs gegen viele Wahrscheinlichkeiten – nicht nur wegen seines Körpermaßes. Denn die Familie des 28-jährigen Kämpfertyps geriet Anfang der 90er Jahre, zum Zeitpunkt der Geburt des Tennisstars, in schwere finanzielle Nöte. Plötzlich ist kein Geld mehr da bei den Schwartzmans, es muss an allen Ecken und Enden gespart werden. Vater Schwartzman belügt seinen Sohn sogar, um ihn auf Tennisreisen zu schicken. „Er sagte mir immer, dass wir in tolle Hotels gehen, mit allem Drum und Dran. Und dann landeten wir in billigen Häusern, und ich teilte mir das Bett mit meiner Mutter“, erinnert sich Schwartzman. Um an Geld zu kommen, verkaufen Mutter und Sohn während der Jugendturniere sogar selbstproduzierte Armbänder an die Fans, auch andere Spieler helfen der Familie aus. „Wir mussten jeden Peso drei Mal umdrehen“, sagt Schwartzman.
Nadal mit 98:2-Bilanz in Paris
Schwartzman gehörte nie zu den besten Jugendspielern, aber trotzdem nahm seine Karriere im Erwachsenentennis schnell Fahrt auf. Er macht sich einen Namen als unermüdlicher, unverdrossener Kämpfer. Schwartzman ist einer, der grundsätzlich keinen Ball aufgibt, egal, wie es gerade steht. Den großgewachsenen Akteuren der neuen Tennis-Generationen begegnet er mit seiner fantastischen Ausdauer, seinem Kampfgeist, aber auch mit enormem Spielwitz und Kreativität. Der 1,67-Meter-Mann ist dabei längst nicht nur ein Zermürbungsartist im roten Sand, sondern ein anerkannter Allrounder – einer, der überall für Schrecken bei der Konkurrenz sorgen kann.
Vor zwei Jahren spielte Schwartzman im Roland-Garros-Viertelfinale schon einmal in entscheidender Grand Slam-Lage gegen Nadal, er gewann den ersten Satz, führte im zweiten Satz mit Break. Dann kam der Regen, es kam eine Pause, es kam der Abbruch, die Verlegung auf den nächsten Tag. Schwartzman verlor seine Linie. Nadal gewann. Nun, im Herbst 2020, will er das schier Unmögliche zum Ende bringen, einen Sieg gegen Nadal, gegen den Mann mit einer 98:2-Bilanz bei den French Open. „Ich gehe raus im Gefühl, dass es klappen kann“, sagt Schwartzman. Der kleine Gigant.
Hier das Einzel-Tableau in Paris