French Open 2020: Vom Lebensgefühl in Paris ist nichts geblieben
Alles ist anders in Roland Garros im Jahr 2020, aber für die Austragung trotz widriger Verhältnisse gibt es einen einfachen Grund.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
30.09.2020, 14:08 Uhr

Manches ist noch wie immer in Paris, im Stadion Roland Garros, draußen im Westen der Hauptstadt. Rafael Nadal gewinnt dort weiter seine Spiele wie eine Maschine. Viele Rutschpartien im roten Sand dauern eine kleine Ewigkeit. Im Zweifelsfall sogar auch mal länger als sechs Stunden, so wie beim zweitlängsten Spiel der Turniergeschichte überhaupt, am Montag zwischen dem Italiener Lorenzo Giustino und dem Franzosen Correntin Moutet. Giustino gewann den fünften und letzten Satz, der allein gut drei Stunden währte, mit 18:16.
Das meiste allerdings bei den Offenen Französischen Meisterschaften des Jahres 2020 ist anders, gewöhnungsbedürftig und leicht bizarr. Wie hätte man sich beispielsweise noch zum Saisonstart eine Aussage wie die von Andrea Petkovic ausmalen können, die nach ihrem Erstrunden-Aus noch einmal brav darauf hinwies, sie habe alles getan, „um anderen Menschen bloß irgendwie aus dem Weg zu gehen.“ Sie sei im Spielerhotel sogar aus Vorsichtsgründen die Treppen gelaufen, so Petkovic, „ich wollte einfach niemanden im Fahrstuhl treffen, auch keine anderen Spieler.“
Roland Garros 2020: Austragung wirtschaftlich nötig
Die Berührungsängste sind nicht etwa paranoid, sondern real, seit bei den US Open der Franzose Benoit Paire positiv getestet auf Covid-19 getestet wurde – und später Kumpels und Kolleginnen laut Reglement vom Turnier auszuschließen waren, weil sie mit Paire im Hotelfoyer Karten gespielt hatten. Das Profileben ist insofern überschaubar geworden, kleinteilig und langweilig. Vom Zimmer geht es zur Turnieranlage, und von der Turnieranlage zurück ins Hotel, wenn der Arbeitstag vorüber ist. Der Eiffelturm ist nur Ansichts-Sache aus dem Hotelfenster, unerreichbar in Zeiten der weltweiten Pandemie. „Man muss es nehmen, wie es kommt. Und wie es nötig ist“, sagt Alexander Zverev. Er hat sich inzwischen mit äußerstem Gleichmut an die neuen Verhältnisse gewöhnt, „was soll man denn auch sonst machen“, sagt der 23-jährige Hamburger.
Vom Lebensgefühl im Pariser Frühling, in dem das Turnier seit über 100 Jahren in Normalzeiten stattfindet, ist 2020 nichts geblieben. Aber die French Open stehen nun im September und Oktober weniger für ein trotziges Ausrufezeichen inmitten der großen Corona-Krise oder die Courage der Pariser Verbandsfunktionäre. Sie finden schlicht und ergreifend statt, weil es wirtschaftlich und finanziell notwendig ist, weil man sonst um das Überleben eines der vier wichtigsten Turniere des Wanderzirkus fürchten müsste.
Erste Auflage unter Flutlicht
Nach dem ersten Palaver über Kälte, Nässe und schwere Bälle haben sich die Gemüter inzwischen auch wieder beruhigt. Man solle jeden Morgen aufstehen und dankbar sein, dass Turniere wie die French Open stattfänden, sagt die zweimalige Wimbledonsiegerin Petra Kvitova, „auch andere Menschen müssen unter schweren Bedingungen arbeiten.“ Tatsächlich gewöhnungsbedürftig sind die Spielzeiten geworden, denn ein Drittel der Matches findet inzwischen nicht mehr bei Tageslicht statt, sondern unter den Flutlichtstrahlern auf mehr als zehn Plätzen. Wie die Australian Open und die US Open sind die French Open zur Tag-und-Nacht-Veranstaltung geworden, von 11 Uhr morgens bis tief in den Abend hinein, sogar bis jenseits von Mitternacht.
Das soll auch so bleiben, wenn es nach den Bossen des Turniers geht, dem FFT-Präsidenten Bernard Giudicelli und French Open-Direktor Guy Forget. Wenn es irgendwann keine Zuschauerbeschränkungen mehr gibt, am besten schon 2021, realistischerweise aber wohl erst ab 2022, dann wird es auf mehreren großen Showcourts auch ausgewiesene Abendveranstaltungen geben. Für die, natürlich, eigene Tickets verkauft werden. Eine Prämisse der nächsten Jahre, so Ex-Spitzenprofi Forget, sei eben der „Schuldenabbau“, schließlich habe allein der Bau des neuen Centre Court-Daches runde 200 Millionen Euro verschlungen.
Neue Bälle: "Nicht mal dem Hund zum Knabbern geben"
Von den ganz großen Ambitionen musste die Organisationscrew Abstand nehmen. Am Ende sind auch die French Open ein Geisterturnier geworden, die 1.000 erlaubten Zuschauer im Pariser Corona-Hotspot sind atmosphärisch nicht der Rede wert. Es gebe Spieler, denen die leeren Ränge gar nichts ausmachten, die ohne Fans sogar weniger Druck verspürten, sagt der frühere Weltranglisten-Erste Mats Wilander, „und dann gibt es Spieler, die von der ganzen Szenerie mit runtergedrückt werden. Die sich nicht nur selbst mitreißen können, sondern einen Impuls von außen brauchen.“ Zverev und Thiem gehörten bei den US Open sicher nicht zur letzteren Gruppe
Den Spruch des Turniers prägte bisher der grantelnde Brite Dan Evans, der nach seiner dramatischen Erstrunden-Niederlage über fünf Sätze gegen Japans Ass Kei Nishikori sagte, die neuen Bälle würde er nicht einmal „seinem Hund zum Knabbern geben.“ Auch Viktoria Azarenkas Auftritt war bemerkenswert, ihr Verweis in der eisigen Witterung darauf, dass sie aus Florida „ganz andere Termperaturen“ gewohnt sei. Es wird alles vergessen sein, wenn am übernächsten Wochenende die French Open-Champions ermittelt sind. Mitten im Herbst, mit den Bällen, die Siegern wie Verlierern zugeworfen wurden.