Rafael Nadal übersteht wilden Wimbledon-Mittwoch: "Das war am absoluten Limit"
Es sah aus wie das Ende einer Schwergewichts-Weltmeisterschaft im Boxen, das Schlußbild dieses unvergeßlichen Wimbledon-Spiels. Auf der einen Seite im Theater der Tennisträume am Boden hingestreckt der Argentinier Juan Martin del Potro, der Verlierer.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
12.07.2018, 11:28 Uhr
Und auf der anderen Seite der glückstrunkene Rafael Nadal, die Hände in den Himmel über dem Centre Court gereckt, allerdings nicht in einer grellen, überdrehten, selbstvergessenen Pose. Nadal weiß, was sich gehört, auch am Ende eines der emotionalsten, denkwürdigsten Siege in vielen Tennisjahren.
Und so entstand nach dem Matchball, nach diesem Grand Slam-Marathon, noch eine weitere ikonische Szene: Nadal überwand das Netz, ging hinüber zu del Potro, der das Gesicht ins Gras vergraben hatte, abgeschlagen und enttäuscht. Er tippte ihn an, half ihm auf die Beine, und dann marschierten der Sieger und der Verlierer in einer Umarmung gemeinsam zum Netz.
Rafael Nadal: "Das Match war verrückt"
Es war ein Wahnsinnsmoment, nach einem Wahnsinnsspiel, in dem sich der spanische Gentleman mit 7:5, 6:7 (7:9), 4:6, 6:4 und 6:4 ins Halbfinal-Ziel gerettet hatte. "Das war absolut verrückt, am absoluten Limit", sprach Nadal später, nun erstmals seit 2011 wieder im Klub der letzten Vier an der Church Road gelandet. Dort trifft er, zum sage und schreibe 52. Mal überhaupt in seiner Karriere, auf Novak Djokovic, den wiedererstarkten serbischen Großmeister.
Der König von Wimbledon, Rasenflüsterer Roger Federer, hat abgedankt, nach seinem frappierenden Fünf-Satz-Flop gegen Südafrikas Riese Kevin Anderson. Aber Nadal, der andere alte Titan, ist noch da. Und wie: Mit dem unnachahmlich herausgekämpften Sieg gegen del Potro hat sich der mallorquinische Stierkämpfer auch die Favoritenstellung für die Ausscheidungsspiele des Jahres 2018 an der Church Road erobert.
"Rafa hat immer noch das Stückchen mehr, das gewisse Extra", sagte del Potro, "er ist ein fantastischer Krieger da draußen auf dem Platz." Kurios genug: Gegen den Argentinier stand Nadal genau so lange auf dem Platz, wie er vor zehn Jahren gebraucht hatte, um die Siegesserie von Roger Federer im legendären Endspiel 2008 zu durchbrechen - vier Stunden und 48 Minuten.
"Strokes of genius", Schläge der Genialität - so heißt ein Dokumentarstreifen über das Federer/Nadal-Duell, der kurz vor der laufenden Wimbledon-Auflage seine Premiere feierte. Es ist ein nostalgischer Blick zurück, ein Blick hinter die Kulissen des Fights, der mit einem 9:7-Sieg Nadals im fünften Satz endete. Federer war 26 damals, Nadal 22.
Andy Murray staunt über "einen der besten Sätze" der Geschichte
Und natürlich schwang bei der Betrachtung immer auch Bewunderung mit: Dass sie beide immer noch eine marktbeherrschende Rolle spielen, als aktuelle Nummer 1 und Nummer 2 der Weltrangliste. Dass sie Grand Slam-Siege feiern wie in ihrer allergrößten Zeit, sechs in Folge sogar seit ihren Comebacks nach Verletzungspech im Jahr 2016.
Aber der Traum von einem Wiedersehen der befreundeten Rivalen am Sonntag, im ultimativen Spiel des Turniers, der zerplatzte in den Turbulenzen des Mittwochs. Da nämlich trennten sich die Wege des Maestro und des Matadors. Federer patzte nach einer 2:0-Satzführung und einem Matchball im dritten Akt, er sprach später davon, es sei jetzt "ein schreckliches Gefühl", er sei "ausgelaugt und total kaputt": "Ich habe nur Durchschnitt gezeigt, das war nicht genug."
Auch Nadal balancierte am Abgrund, er lag mit 1:2-Sätzen hinten gegen del Potro, schaffte aber noch das fabelhafte Comeback. Im fünften Satz erlebten die Fans eine Kaskade von Traumschlägen, eine Partie voller Virtuosität und Leidenschaft, einen Kampf um jeden Punkt, einen Kampf wie um Leben oder Tod.
"Das war ohne Zweifel einer der besten Sätze, die ich im Tennis je gesehen habe", sagte am BBC-Mikrofon Andy Murray, der verletzte Lokalmatador. Nadal rauschte einmal sogar in die Zuschauerränge hinein, um einem Ball hinterher zu laufen. Er wollte gewinnen, um jeden Preis.
Rafael Nadal 2017 in Wimbledon an Gilles Muller gescheitert
In den letzten Jahren hatte der Spanier oft wegen Verletzungspech auf den Tennis-Grüns an der Church Road gefehlt. Außerdem war er das Opfer ambitionierter Außenseiter geworden, Dustin Brown zum Beispiel, der deutsche Trickspieler mit den hüftlangen Rastazöpfen, düpierte ihn 2015 in der zweiten Runde.
2017 erlebte Nadal einen traumatischen Abschied im Achtelfinale, gegen den Luxemburger Gilles Muller verlor er 13:15 im fünften Satz und marschierte mit Tränen der Bitterkeit vom Court. Dieses Jahr scheint Nadal wieder auf der Höhe seiner Kraft, auch weil er nach seinem French Open-Triumph sein übliches Vorbereitungsturnier im Queens Club ausließ.
Nadal kann immer noch zulegen, wenn es nötig ist. Jetzt, in der zweiten, intensiven Woche in Wimbledon. Er wird seine Kraft brauchen, auch nun gegen Djokovic und dessen Traum von einer Titel-Renaissance.