Winning Ugly 2.0 – Wie man Tennisregeln „nutzen“ kann
Viele Regeln kann der ambitionierte Hobbyspieler dazu nutzen, um den Gegner völlig aus dem Spielkonzept zu bringen.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
07.12.2015, 14:15 Uhr

Von Philipp Heger
Die meisten Tennisspieler kennen die gängigen Spielregeln. Allerdings spielen die Wenigsten mit Schiedsrichter, und auch die Wenigsten sind sich in allen Tennisregeln 100-prozentig sicher. Selbst die meisten großen Preisgeld-Turniere und Qualifikationen von Future-Turnieren werden ohne Schiedsrichter ausgetragen. Regeln wie „Jeder Spieler entscheidet auf seiner Seite“ kennt noch fast jeder. Aber wie sieht es mit Netzrollern beim Aufschlag aus? Entscheidet dies der Aufschläger oder Rückschläger? Oder: Wann und wie oft darf ich eine Toilettenpause nehmen? Wann und wie viele Verletzungspausen darf ich nehmen? Wie oft darf ich den Aufwurf wiederholen?
Tennis ist ja bekanntlich ein Spiel, das viel und hauptsächlich im Kopf entschieden wird. Viele dieser Regeln könnte der ambitionierte Hobbyspieler eben dazu nutzen, um den Gegner völlig aus dem Spielkonzept zu bringen. Dem Thema der „mentalen Kriegsführung“ im Tennis hat sich ja schon Brad Gilbert, die ehemalige Nummer vier der ATP-Weltrangliste, in seinem 1997 erstmals erschienenen Buch „Winning Ugly“ gewidmet. Wir haben nun einige interessante Regeln entdeckt, die sich auch zu diesem Zweck verwenden ließen. Inwieweit dies mit dem eigenen „Fairplay-Kodex“ übereinstimmt, muss wohl jeder für sich selbst wissen.
Folgendes fiktives Match ohne Schiedsrichter wäre in Deutschland möglich:
Die Spieler Saubermann und Wenigfair treten bei einem Herren-Preisgeld-Turnier in der Halle gegeneinander an. Saubermann hat den ersten Satz mit 7:6 verloren, den zweiten Satz mit 6:2 gewonnen. Vor dem Match Tiebreak beantragt Wenigfair eine Toilettenpause und kommt, da der Weg zur Toilette recht weit ist, erst nach über zehn Minuten wieder. Der Hintergedanke von Wenigfair war dabei natürlich, Saubermanns Spielrhythmus zu brechen. Die ersten Punkte werden gespielt. Saubermann erwischt trotz Wenigfairs taktischer Pause den besseren Start und geht mit 5:3 in Führung. Wenigfair beantragt eine Verletzungspause wegen starker Rückenschmerzen. Der Physiotherapeut betritt den Court und behandelt Wenigfair drei Minuten am Rücken. Anschließend wird das Spiel wiederaufgenommen.
Was passiert beim Netzaufschlag?
Diesmal zeigt die Auszeit ihre Wirkung und Wenigfair schafft den Ausgleich. Nach einigem Hin und Her hat Saubermann dann aber doch bei 9:8 und eigenem Aufschlag Matchball. Diesen verwandelt er scheinbar mit einem Ass. Wenigfair behauptet jedoch, dass der Aufschlag die Netzkante touchierte und zu wiederholen sei. Nach kurzer hitziger Diskussion erscheint der Oberschiedsrichter des Turniers. Wenigfair beharrt darauf, dass der letzte Aufschlag die Netzkante berührt habe. Der Oberschiedsrichter entscheidet daraufhin, dass Saubermann erneut den ersten Aufschlag auszuführen habe beim Spielstand von 9:8. Beim Wiederholungspunkt entsteht nun ein Ballwechsel, den Saubermann bestimmt und in dem er Wenigfair stark unter Druck setzt. Mit einer krachenden Longline-Vorhand nah an die Seitenlinie, die Wenigfair aber gerade noch zurückspielen kann, ruft Wenigfair „Aus“. Saubermann beschwert sich vehement, dass der Ball doch noch im Feld gewesen sei. Wenigfair gibt zu, sich getäuscht zu haben und behauptet, es müsse nun ein Wiederholungspunkt gespielt werden, da er sich einmal im Spiel irren dürfte. Wiederum wird der Oberschiedsrichter gerufen. Dieser stimmt Wenigfair zu und entscheidet auf Wiederholung. Saubermann beschwert sich und fordert einen Schiedsrichter. Der Oberschiedsrichter übernimmt nun auch das Amt des Schiedsrichters.
Saubermann schlägt erneut auf, ist jedoch inzwischen schon sehr wütend und agiert zu ungeduldig und verschlägt eine leichte Vorhand. Die Seiten werden gewechselt. Wenigfair möchte erneut eine Verletzungspause, da er sich eben während des letzten Ballwechsels den Fuß verdreht hat. Der Schiedsrichter gewährt ihm diese Verletzungspause, und erneut kommt der Physiotherapeut und behandelt Wenigfair drei Minuten am lädierten Fuß. Anschließend wird weitergespielt. Saubermann ist nun richtig sauer und verschlägt den ersten Aufschlag. Auch den zweiten Aufschlag spielt er mit viel zu viel Risiko und serviert einen Doppelfehler. Saubermann flucht und schimpft sowohl über Gegner Wenigfair als auch über den Oberschiedsrichter. Auch den nächsten Return kann er nicht im Feld unterbringen und Wenigfair gewinnt das Match mit 11:9 im Match Tiebreak.
Alles regelkonform, aber auch sportlich fair?
Alle von Wenigfair durchgeführten Manöver waren im Übrigen regelkonform. Jeder Spieler darf exakt eine Toilettenpause nehmen. Diese sollte eigentlich maximal fünf Minuten dauern, jedoch ist dies nur ein Richtwert. Jeder Spieler darf sich behandeln lassen, wenn er eine Verletzung hat (Krämpfe zählen nicht als Verletzung). Auch hier herrscht oft der Irrglaube, dass man nur eine Verletzungspause hat. Es ist jedoch so, dass man für jede Verletzung eine Verletzungspause hat. Wenigfair hatte halt zwei verschiedene Verletzungen. Hätte er sich zum Beispiel noch bei einem Sturz noch an der Hand verletzt, hätte er auch noch eine dritte Verletzungspause nehmen können. Auch die Regel mit dem Netzaufschlag und der Wiederholung sind in Deutschland absolut regelkonform. Einmal pro Match darf man sich in der Halle (allerdings nur in der Halle bei Bodenbelägen ohne Ballabdrücke) korrigieren und Wiederholung fordern. Netzaufschlag gilt (zumindest wenn ohne Schiedsrichter gespielt wird), wenn einer der beiden Spieler eine Netzberührung gesehen oder gehört hat.
Es lässt sich natürlich darüber streiten, ob Wenigfairs Verhalten angemessen war. Regelkonform war es in jedem Fall. Allerdings ist natürlich Saubermanns Wut durchaus zu verstehen, denn die Spielregeln lassen einen großen Spielraum zu, den Gegenspieler aus dem Konzept zu bringen und zu provozieren. Wer wäre denn nicht auch sehr verärgert, wenn der Gegner innerhalb kürzester Zeit dreimal das Spiel unterbricht, um den eigenen Rhythmus zu zerstören und dann noch eine Netzberührung bei Matchball hört, obwohl man sich selbst vollkommen sicher ist, dass es definitiv kein Netz war? Und damit nicht genug: Kommt der dreiste Gegenüber dann noch auf die Idee, einen klar im Feld befindlichen Ball als „Out“ zu geben und bekommt auch noch eine Wiederholung, steigt das Wutpotential.
Aber auch die psychische und mentale Seite gehört halt zu unserem schönen Sport dazu.