"Finale wird Ereignis des Jahres"
Vor einem Jahrzehnt lag die Nation in Schutt und Asche. Jetzt steht Serbien im Davis-Cup-Endspiel.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
20.09.2010, 16:15 Uhr

Auf seinem linken Unterarm ist ein Zitat des Schriftstellers Fjodor Dostojewski eintätowiert: „Schönheit rettet die Welt.“ Doch wenn der etwas unkonventionelle Tennisprofi Janko Tipsarevic zu seinen Missionen auf den Centre Court schreitet, dann darf es auch mal verbissener Kampfeswille und eiserne Beharrungskraft sein, die ihm und - in diesem Fall – ganz Serbien rauschhaftes Glücksgefühl bescheren. Jedenfalls: Als Tipsarevic am Sonntagabend um genau 20.24 Uhr einen Vorhandball seines Gegenspielers Radek Stepanek (Tschechien) ins Aus flattern sah, da war der Mann mit den schrillen Brillen endgültig zu Serbiens Tennishelden an diesem Wochenende aufgestiegen. Zum Mann, der mit seinem 6:0, 7:6 und 6:4-Triumph eine zwischenzeitlich verloren geglaubte Halbfinalpartie im Davis Cup noch umgebogen hatte. Zwei Punkte holten die Serben noch im Schlussspurt dieses Drei-Tages-Thrillers: Erst glich der wieder zu Kräften gekommene Novak Djokovic im Spitzeneinzel gegen Wimbledonfinalist Tomas Berdych zum 2:2 aus, dann nutzte Tipsarevic die Steilvorlage aus und garantierte den magischen dritten Punkt, er, der stille, eher scheue Hauptdarsteller: „Das ist der größte Moment meiner Karriere. Und es ist ein ganz großer Moment für das ganze Land“, sprach der Literaturfreund, der sich erst unlängst bei den US Open mit der Schachspieler-Novelle von Stefan Zweig beschäftigt hatte.
Nach dem Halbfinalspektakel vor 18.000 entfesselten Fans, gegen das sich die Playoff-Partie der Deutschen gegen Südafrika wie ein gediegenes Kaffeekränzchen ausnahm, darf sich die Tenniswelt nun auf die emotionsgeladenste Finalpartie der letzten Jahre freuen: Wieder in der Belgrad Arena wollen sich die Serben Anfang Dezember, zum Abschluss dieses verrückten Länderspieljahres und zum Ende der Saison, gegen Frankreich auch die hässlichste Salatschüssel der Welt sichern. „Die Leute werden wohl ihr letztes Hemd hergeben, um dabei zu sein“, sagte Bobo Zivojinovic, einstmals Rivale von Boris Becker und nun im Betreuerstab des serbischen Teams engagiert, „das wird das Ereignis des Jahres. Ich bin sicher, wir könnten eine Million Karten dafür loswerden.“
Schon beim Halbfinale waren an drei Spieltagen über 50.000 Zuschauer in den modernen Veranstaltungspalast geströmt, selbst die teuersten Logen am Spielfeldrand waren binnen weniger Stunden ausverkauft gewesen. „Tennis ist die Sportart Nummer eins“, sagt der Weltranglistenzweite Novak Djokovic, „kein Wunder: Unsere Siege geben der Nation auch wieder ein Stück Selbstwertgefühl zurück.“ Dank Tennis, so Djokovic, werde das Land „endlich einmal nicht bloß mit Krieg, Zerstörung und Leid identifiziert“: „Wir stehen für ein anderes, modernes, weltoffenes Serbien.“
Der 19. September 2010 markierte so auch den vorläufigen Höhepunkt erstaunlicher Tennisjahre für eine Nation, die noch vor einem Jahrzehnt buchstäblich in Schutt und Asche lag. Und er zeigte auch, mit welch verzehrendem Hunger sich die Generation Tipsarevic, Djokovic und Co. zu diesem Triumph kämpfte – gegen allen Mangel in bescheidenen Lebensverhältnissen: „Wir haben uns nicht beklagt, wir haben unsere Chance gesucht – und genutzt“, sagte Tipsarevic, der beide Einzel gegen die Tschechen gewann. Nachdem Djokovic am Freitag noch wegen seines Erschöpfungszustandes pausiert hatte – er war erst am Mittwochmorgen aus New York in Belgrad angekommen -, unterstützte der international bekannteste aller serbischen Tenniskönner das Team ab Samstag mit allen zur Verfügung stehenden Kräften. Das Doppel verlor er zwar gemeinsam mit Weltklassemann Zimonjic, aber dann schlug der gereifte Spaßvogel den zähen Berdych – es war die Grundlage für den späteren 3:2-Coup. „Gewinnen wir den Pokal, dann wäre es genau so schön wie ein Grand- Slam-Sieg“, meinte Djokovic.
Es wäre, wie gesagt, die endgültige Krönung für die goldene Tennisgeneration, die Serbien seit Mitte des letzten Jahrzehnts immer häufiger in die Schlagzeilen der Weltpresse geführt hatte. Immerhin drei Grand-Slam-Sieger und –Siegerinnen stellte die Balkannation, neben Djokovic noch die beiden Starspielerinnen Ana Ivanovic und Jelena Jankovic. Beide weiblichen Profis rückten auch schon einmal auf Platz eins der Weltrangliste vor, ein Erfolgsmoment, dem der zuletzt stark formverbesserte Djokovic auch wieder näher gerückt ist. Sie alle seien „Künstler in der Not“ gewesen, hat Jankovic einmal gesagt über die serbischen Spieler dieser Generation: „Wir spielten zwischen Trümmern Tennis. Aber dieser Sport lieferte uns den großen Antrieb, aus unserem Leben etwas zu machen.“ Ivanovic, das schöne Seite-1-Girl, trainierte in frühen Tennisjahren sogar für längere Zeit in einem zweckentfremdeten Swimming-Pool, weil keine anderen Übungsmöglichkeiten zur Verfügung standen.
Leicht fiel den Serben der Vorstoß ins erste Finale nicht: Schon in der ersten Runde musste Rekordsieger USA in Belgrad mit 3:2 bezwungen werden. Dann kam das Meisterstück eines 4:1-Erfolgs beim nachbarschaftlichen Erzrivalen Kroatien. Und jetzt verabschiedete das Team um Djokovic auch noch Vorjahresfinalist Tschechien, für viele Experten der Geheimfavorit dieser Davis-Cup-Saison, ins Aus. „Ich hätte nicht mal einen Erstrundensieg unterschrieben“, sagte Niki Pilic, der langjährige deutsche Davis-Cup-Dirigent, der nun als Chefstratege in serbischen Diensten ist. Er sitzt dort zwar nicht in seiner typisch gekrümmten Pose auf der Bank, der 71-jährige Altmeister aus Split, aber sie vertrauen auf seine Tipps im Hintergrund, auf die einmalige Expertise des früheren Champions. „Drei Punkte im Finale zu holen, das wird so leicht wie den Mount Everest zu besteigen“, sagt Pilic. Ihm selbst winkt im Dezember ein historisch einmaliger Augenblick: Nach Deutschland und Kroatien könnte er schon das dritte Team zum Davis-Cup-Sieg anleiten.
Fotos: GEPA pictures