Tränen und Triumph in Roland Garros
tennisnet.com blickt auf das legendäre Finale der French Open 1999 zurück.
von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet:
19.05.2011, 09:21 Uhr
Von Christian Albrecht Barschel
Es ist bis heute eines der packendsten Spiele, das es im Damentennis je gegeben hat. Das French-Open-Finale 1999 zwischen Steffi Graf und Martina Hingis hatte alles, was zu einem guten Tennisdrama dazu gehört. Zwei völlig unterschiedliche Persönlichkeiten und Generationen standen sich gegenüber, die auf ihre Weise dem Damentennis in Sachen Stil, Strategie und Verhalten ihren Stempel aufdrückten.
Die Sympathien der Zuschauer waren dabei klar verteilt. Auf der einen Seite mit Steffi Graf der Liebling des Pariser Publikums, auf der anderen Seite die respektierte, aber nicht wirklich geliebte Martina Hingis. Nach einem spannenden Finale mit vielen Aufs und Abs gab es Tränen bei der Verliererin und Freudestrahlen bei der völlig überwältigten Siegerin. tennisnet.com blickt auf dieses legendäre und emotionale Duell zurück, das einen letzten großen Höhepunkt in der Karriere von Steffi Graf setzt und einen Wendepunkt in der Laufbahn von Martina Hingis einleitet.
Sechster French-Open-Sieg für Graf oder Karriere-Grand-Slam für Hingis?
Am 5. Juni 1999 betreten Steffi Graf und Martin Hingis den Court Central im Stade Roland Garros in Paris. Bei äußerst windigen und nasskalten 14 Grad Celsius wollen beide Spielerinnen Geschichte schreiben. Die 18-jährige Hingis, bereits fünffache Grand-Slam-Siegerin, ist die Nummer eins der Welt und erwartete Finalistin in Paris. Der Schweizerin, die schon zwei Jahre zuvor im Endspiel der French Open stand, fehlt nur noch der heiß ersehnte Triumph in Roland Garros, um den Karriere-Grand-Slam zu vollenden. Die mittlerweile fast 30-jährige Graf steht dagegen recht überraschend in ihrem neunten Paris-Endspiel, in dem sie ihren sechsten Triumph vor Augen hat. Doch der Körper von Graf ist durch viele Verletzungen ziemlich gebeutelt und das Karriereende naht.
Während Hingis ohne Probleme das Finale erreicht, muss Graf im Viertelfinale gegen Lindsay Davenport und im Halbfinale gegen Monica Seles extrem kämpfen, um ins Endspiel einzuziehen. "Ehrlich gesagt habe ich nie damit gerechnet, hier zu stehen. Meine Vorbereitung war nicht allzu gut und ich hatte ein paar körperliche Probleme vor dem Turnier" sagt Graf nach dem Finaleinzug. Vor den Augen ihrer Eltern Heidi und Peter Graf, der nach der Haftentlassung wegen Steuerhinterzeihung erstmals seit 1995 bei den French Open dabei ist, geht die Deutsche als Außenseiterin in das Finale gegen die Weltranglisten-Erste.
Verwarnung mit Folgen für Hingis
Von Beginn an entwickelt sich eine intensive und zähe Begegnung im Duell der Generationen. Hingis' Plan ist es, Graf auf der Rückhandseite, bei der die Deutsche so gut wie immer mit dem Slice agiert, festzunageln und die starke Vorhand aus dem Spiel zu nehmen. Der Schweizerin gelingt das zunächst sehr gut, und sie erwischt einen Auftakt nach Maß. Schnell führt Hingis mit 2:0. Doch Graf kommt zurück, wehrt zwei Breakbälle zum 3:0 ab und schafft ihrerseits den 2:2-Ausgleich. Hingis zeigt jetzt schon etwas ihre Ungeduld, indem sie ihren Schläger wirft und dafür eine Verwarnung kassiert, die später noch Folgen haben wird.
Trotzdem erhöht die Schweizerin nun wieder das Tempo und breakt die Deutsche in einem umkämpften Aufschlagspiel zum 3:2. Nach einem weiteren Break zum 5:2 scheint der erste Satz entschieden. Doch Graf kann auf 4:5 verkürzen und ist kurz davor, erneut den Ausgleich zu erreichen. Hingis beißt sich aber in ihrem zähen Aufschlagspiel durch und nutzt ihren vierten Satzball nach 43 Minuten zum Satzgewinn.
Hingis verspielt alle Sympathien
Der zweite Satz beginnt genauso wie der vorangegangene Durchgang. Hingis breakt Graf im ersten Aufschlagspiel und geht wieder mit 2:0 in Führung. Doch dann macht die Schweizerin beim Stand von 6:4, 2:0 eine völlig überflüssige Aktion, die das Publikum gegen sie aufbringt und der Partie gleichzeitig einen Wendepunkt gibt. Ein Vorhand-Return der Weltranglisten-Ersten landet in der Nähe der Grundlinie und wird knapp Aus gegeben. Doch Hingis will die Entscheidung nicht wahrhaben und bittet die Stuhlschiedsrichterin Anne Laseserre, sich den Abdruck anzugucken.
Die Entscheidung wird bestätigt. Anschließend gehen mit der Schweizerin die Gäule durch und sie tut etwas, das verpönt ist im Tennis und ihr erheblichen Ärger einbringt. Sie geht auf die Seite von Graf und markiert den angeblichen Abdruck ihres Balles. Die Zuschauer quittieren diese Aktion mit lauten "Steffi"-Rufen. "Ich war schockiert, was ich da gesehen habe. Martina hat sich wie ein Teenager verhalten, der sie auch ist. Sie spielt wie ein Champion, aber sie muss lernen, sich wie ein Champion zu benehmen" sagte Chris Evert später, die das Finale für den Sender ESPN kommentierte.
Hingis zittert, Graf übernimmt die Kontrolle
Hingis, die eigentlich das Match kontrolliert, ist weiter in Rage, diskutiert mit der Stuhlschiedsrichterin und setzt sich auf ihren Stuhl. Die Oberschiedsrichterin Georginia Clark kommt auf den Platz. Nach einer erneuten Diskussion und weiteren "Steffi"-Rufen bekommt Hingis mit einer "Court Violation" eine erneute Verwarnung. Durch die frühere Verwarnung im ersten Satz resultiert das in einem Strafpunkt. Anstatt des erhofften 0:15 steht es nun 30:0 für Graf, die sich von diesem Prozedere nicht beeindrucken lässt. Die Deutsche holt sich auch das Spiel und führt wenig später mit 4:3 zum allerersten Mal im Match.
Das Finale wird nun von Minute zu Minute intensiver. Einen Breakpunkt zum 5:3 lässt Graf aber liegen. Mit einem leichtfertig verschlagenen Schmetterball zum Abschluss des besten Ballwechsels des Spiels gibt sie zudem die Chance auf eine weitere Breakchance aus der Hand. Hingis gleicht zum 4:4 aus und nimmt kurz darauf der Deutschen den Aufschlag zum 5:4 ab. Das Finale scheint entschieden, Hingis muss nur noch ausservieren. 15:0, noch drei Punkte fehlen der Weltranglisten-Ersten zur Vollendung ihres Karriere-Grand-Slam. Doch der Schweizerin wackeln die Knie, die Beine werden schwer und sie kassiert das Break zum 5:5. Graf übernimmt das Ruder, macht acht der nächsten neun Punkte und schafft den Satzausgleich.
Tricks von Hingis können Grafs Triumph nicht verhindern
Den Schwung des Satzgewinns nimmt Graf auch in den dritten Satz mit. Die Deutsche agiert nun viel selbstbewusster, während Hingis viele vermeidbare Fehler produziert. Graf geht mit 3:0 in Führung und hat damit nicht nur sechs Spiele in Folge gewonnen, sondern auch 24 von den letzten 29 Punkten gemacht. Doch so leicht gibt sich die 18-jährige Schweizerin nicht geschlagen, die sich mit dem Break zum 2:3 wieder zurück ins Spiel bringt. Trotz eines Spielballs zum 3:3 vergibt Hingis den Ausgleich und wird zunehmend ungeduldiger. Bei 5:2, 40:30 und Aufschlag der Weltranglisten-Ersten hat Graf ihren ersten Matchball. Es kommt zu einer Aktion, die an das Match von Michael Chang und Ivan Lendl zehn Jahre zuvor auf dem gleichen Platz erinnert.
Hingis schnibbelt einen Aufschlag von unten ins Feld, worauf die überrasche Graf ans Netz stürmt und passiert wird. Der Matchball ist abgewehrt, aber das Publikum kann nicht aufhören, die Schweizerin auszubuhen. Wenig später erspielt sich Graf ihren zweiten Matchball für den French-Open-Sieg. Erneut probiert es Hingis mit einem Aufschlag von unten, der allerdings im Aus landet. Die Schweizerin beschwert sich über die Lautstärke der Zuschauer und diskutiert mit der Schiedsrichterin. Graf wird es allmählich zu bunt. "Wollen wir diskutieren oder können wir einfach nur Tennis spielen", kommentiert die "Gräfin" die Situation. Es ging schließlich weiter und nachdem eine Rückhand von Hingis ins Aus segelte, ist es nach 2:23 Stunden passiert. Steffi Graf gewinnt zum sechsten Mal die French Open.
Graf: "Die wundervollste Erinnerung meiner Karriere"
Während sie sich vom Pariser Publikum feiern lässt, verlässt Hingis völlig entnervt unter weiteren Buhrufen den Platz. Sie ist so aufgelöst und aufgebracht, dass sie nicht an der Siegerehrung teilnehmen möchte. Ihre Mutter Melanie Molitor schleppt die bitterlich weinende Tochter jedoch auf den Platz zurück. "Ich habe Dinge getan, die nicht hätte tun sollen. Aber Menschen machen Fehler. Besonders in meinem Alter, wenn du dich für so klug hältst. Aber in Wirklichkeit bist du ein Arschloch" kommentierte Hingis nach einigen Monaten mit Abstand ihr Verhalten.
Bei der anschließenden Siegerehrung zeigt die sonst so ruhige Graf ihre Freude so ausgelassen wie noch nie. "Das fühlt sich unglaublich an. Ich fühle mich französisch. Ich habe auf der ganzen Welt gespielt, aber ich hatte nie ein Publikum wie dieses hier" sagte die mit den Tränen kämpfende Graf zu ihrem "größten, unerwarteten Triumph, den ich je gehabt habe. Es war eines der verrücktesten Matches aller Zeiten, es hatte alles."
Später gab sie bekannt, dass sie das letzte Mal bei French Open gespielt hat und der sechste Erfolg in Paris "der wundervollste Erinnerung ist, wenn sie auf ihre Karriere zurückblickt." Während Graf zwei Monate später ihre Karriere nach 22 Grand-Slam-Titeln ohne große Ankündigung beendete, fand Hingis nicht mehr so richtig zu ihrer alten Stärke zurück. Die Schweizerin gewann in ihrer Karriere kein Grand-Slam-Turnier mehr. Die Finalniederlage hatte ihre Spuren hinterlassen. (Foto: GEPA pictures)