US Open 2021: Angelique Kerber - Am Rand des Abgrunds ein Comeback voller Überzeugung
Angelique Kerber stand in der ersten Runde der US Open gegen Dayana Yastresmka bereits kurz vor dem Aus. Doch die Deutsche kämpfte sich aus einer schier aussichtslosen Position zurück - und gewann letztlich im Tiebreak des dritten Satzes.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
31.08.2021, 17:55 Uhr
Wer weiß, ob Angelique Kerber diesem Ball vor ein paar Monaten noch nachgelaufen wäre? Dem Ball, den ihre Gegnerin Dayana Yastremska bei einer 5:3 und 30:15-Führung im entscheidenden dritten Satz weit in Kerbers Rückhandecke gefeuert hatte, draußen auf Platz 17 des US Open-Areals in Flushing Meadows. Aber Kerber ist eben nicht mehr die Kerber des tristen sportlichen Winters und Frühlings, sie spielt seit ihrem Turniersieg daheim in Bad Homburg und dem Halbfinalvorstoß in Wimbledon wieder mit ganz anderer Courage und Überzeugung. Auch mit frischer Leidenschaft und einer gehörigen Portion Nervenstärke.
Und so flitzte die 33-jährige Kielerin diesem wegweisenden Ball mit letzter Kraft hinterher, schlug ihn wuchtig auf die andere Seite – wo Gegnerin Yastremska die Kugel aus glänzender Position grotesk ins Netz setzte. Nix war es mit Matchbällen für die junge Ukrainerin, auch nix mit einem Überraschungscoup gegen die deutsche Favoritin. Als nach zwei Stunden und 25 Minuten abgerechnet war im Schatten des Arthur Ashe-Stadions, ging die am Abgrund balancierende Kerber als Erste mit einem dramatischen 3:6, 6:4, 7:6 (3)-Sieg durchs Ziel.
„Es war eine Achterbahnfahrt“, sagte die dreimalige Grand Slam-Gewinnerin später, „das Wichtigste war: Ich habe niemals den Glauben an mich verloren.“ Absolut „sensationell“ sei Kerbers Widerstandsfähigkeit gewesen, ihre „Unerschütterlichkeit“ in diesem Match, befand da DTB-Frauenchefin Barbara Rittner: „Man spürt, wie viel Spaß sie wieder am Tennis hat. Und wie unbeugsam ihre Moral ist.“ Kerbers Sieg war das Highlight an einem Eröffnungsmontag, an dem mit Philipp Kohlschreiber, Peter Gojowczyk, Dominik Koepfer und Andrea Petkovic auch alle anderen deutschen Profis in Runde zwei einzogen.
Kerber für Becker "Mitfavoritin" auf den Titel
Kerber war zwischenzeitlich fast hilflos dem Schlaggewitter der wie entfesselt aufspielenden Yastremska ausgeliefert gewesen. „Wenn sie in Schwung ist, kannst du sie kaum bremsen. Sie spielt mit das schnellste Tennis auf der Tour, das ist ein unmenschliches Tempo“, sagte Kerber. Umso imponierender, dass sich die New York-Gewinnerin von 2016 in keiner Sekunde aufgab, selbst nicht beim hoffnungslos anmutenden Defizit im dritten Akt. „Ich spüre einfach wieder mehr Energie auf dem Platz. Für mich ist auch entscheidend, dass wieder Fans auf den Courts sind“, so Kerber, „das ist gleich eine ganz andere Tenniswelt.“
Kerber gehört zu den Spielerinnen, denen gewisse Außenseiterchancen bei diesen Offenen Amerikanischen Meisterschaften eingeräumt werden. Boris Becker zählt die Kielerin nach dem Aufschwung der letzten Wochen und Monate sogar zu den „Mitfavoritinnen“ auf den Titel. Kerber will davon nichts wissen, sie vertraut am liebsten ihrer selbst so bezeichneten „Eichhörnchen-Taktik“: „Immer nur von Punkt zu Punkt denken, von Spiel zu Spiel.“ Nicht daran denken, wer irgendwann einmal in diesem Turnier als Gegnerin warten könnte. Das nächste Match ist ohnehin schwer genug, es geht dann am Mittwoch gegen die Ukrainerin Anhelina Kalinina, gegen die Kerber bei den French Open ziemlich sang- und klanglos verlor. Da sei „sicher noch eine Rechnung“ zu begleichen, sagt Kerber.