Supermacht am Boden: „Jetzt feiern andere hier ein Fest“
Das US-amerikanische Tennis steckt vor allem bei den Herren in einer Krise, an der sich wohl so schnell nichts ändern wird.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
25.08.2014, 07:12 Uhr

Von Jörg Allmeroth
Auf dem Court wehte die Sternenbanner-Flagge an diesem Finaltag von Wimbledon im strammen Sommerwind. Gleich zwei US-Amerikaner blickten stolz in die Kameras, hielten Siegerpokal und Silberteller für Platz zwei lächelnd in die Höhe. Einen kleinen Schönheitsfehler hatte das Motiv dann allerdings doch, es handelte sich nur um die Schlussszene des Juniorenturniers 2014.Abgebildet waren der 18-jährige Gewinner Noah Rubin und sein unterlegener Landsmann Stefan Kozlov, bestenfalls zwei amerikanische Versprechen für eine fernere Zukunft.
Die Realität im Erwachsenen-Tennis kam im All England Club sozusagen vom anderen Ende des Gefühlsspektrums, sie war von bitterer Natur für ein siegverwöhntes Land, das Grand-Slam-Titel einst mit Gleichmäßigkeit und Selbstverständlichkeit einsammelte: Kein einziger US-amerikanischer Herrenspieler erreichte auf den fein gepflegten Grüns auch nur die dritte Runde, ein Novum in der modernen Ära dieses Sports, ein neuer Tiefpunkt in der langjährigen Abwärtsspirale für Amerikas Schläger-Typen. „Wir schauen nur noch zu, wie die anderen die großen Preise abräumen", sagt der ehemalige Tennis-GeniusJohn McEnroe, „und ich befürchte, daran wird sich so schnell auch nichts ändern."
Nachbar Kanada läuft USA den Rang ab
Und tatsächlich: Wenn an diesem Montag in Flushing Meadow die US Open des Jahres 2014 beginnen, spielt der einstmals vor Stärke und Selbstbewusstsein strotzende Hausherr eben nur diese Rolle - die des teilnehmenden Gastgebers, der mangels Stars und Substanz dem Rest der Welt den Vortritt lassen muss. Besonders schmerzlich für den Tennis-Machthaber der Vergangenheit: Der kleine nordamerikanische Nachbar Kanada stellt mitEugenie Bouchardund dem Aufschlag-BallermannMilos Raonicgleich zwei Assse, die Ambitionen auf den Titelgewinn beim letzten Grand Slam der Saison haben. Schon beim Saisonhöhepunkt auf Wimbledons Rasenfeldern hatte Tennis-Amerika entgeistert auf den kanadischen Sturm und Drang geblickt: Bouchard, gerade mal 20, erreichte bei ihrem sechsten Major-Turnier das Finale. Und Raonic konnte erst im Halbfinale von MaestroRoger Federergebremst werden.
Selbst ein Titellauf von WuchtbrummeSerena Williamsist nicht ausgemacht in einer Saison, in der sich die Tennis-Dominatorin als wahre Wundertüte des Wanderzirkus gibt - nach dem Achtelfinal-Knockout in Melbourne verlor die Weltranglisten-Erste in der zweiten Runde in Paris und der dritten Runde in London. Zu allem Überdruss verabschiedete sich die 32-Jährige von Wimbledon nochmit einem bizarren Doppel-Auftritt an der Seite ihrer Schwester Venus, selbst ehemalige Szenegrößen spekulierten damals über Drogen- oder Alkoholeinfluss. „Ich glaube, dass Serena wieder in der Spur ist. Sie ist immer noch die Topkandidatin für den Sieg in New York", sagt Ex-StarLindsay Davenport, „aber so siegesgewiss wie in früheren Jahren kann sie nicht sein, nicht nach den Grand-Slam-Ergebnissen zuletzt."
Connors: „Durststrecke wird noch länger dauern"
Lang, lang ist's her, dass ein amerikanischer Herrenspieler überhaupt als Favorit für die US-Open-Trophäe ins Gespräch kam. Der letzte amerikanische Sieg datiert schon bis zum Jahr 2003 zurück, damals holte sichAndy Roddickbei einem „denkwürdigen Chaos-Turnier" (L´Equipe) unter teils skandalösen Umständen den Titel - der langjährige Aufschlag-Weltrekordler war von den Organisatoren in den Wetter-Turbulenzen massiv bevorteilt worden. Alle Hilfe der Turniermacher könnte dieser Tage aber nicht mehr ausreichen, um einen Lokalmatador auf den Grand-Slam-Thron zu hieven. International wettbewerbsfähig ist gerade mal der 2,07-Meter-RieseJohn Isner, doch der Weltranglisten-15. verfügt nicht über die spielerische Klasse für den großen Sprung nach vorn. Isner ist gleichwohl der bei weitem beste US-Amerikaner in den Charts des Welttennis, erst auf den Plätzen 46, 49, 55 und 56 folgen Spieler wieDonald Young,Steve Johnson,Jack SockundSam Querrey, die ihre Zukunft im Profibetrieb eigentlich schon hinter sich haben. Ein junger US-Amerikaner mit großer Perspektive, einer, der das Erbe der Djokovics, Federers oder Nadals antreten könnte, ist nicht in Sicht. „Die Durststrecke wird noch länger dauern", sagt der alte MeisterJimmy Connors, „wir können nur eins tun: Warten, Hoffen und Beten."
Amerika kämpft mit ähnlichen Problemen wie andere Tennis-Traditionsländer: Zu viele Talente wenden sich anderen, finanziell attraktiveren, öffentlichkeitswirksameren Sportarten zu - Basketball, Baseball oder American Football. Da helfen auch die vielen Millionen Dollar nichts, die der reiche Tennis-Verband USTA Jahr für Jahr ins Ausbildungssystem pumpt. „Wir haben einfach nicht genügend Zugriff auf die besten Kids, wir sind nicht attraktiv genug", sagt John McEnroe, „es fehlen auch die großen Identifikationsfiguren wie Sampras oder Agassi." Stars kommen unverändert aus den großen Ausbildungsregionen Amerikas, aus Florida oder Kalifornien - nur sind es eben Spieler aus Europa, Asien oder Südamerika, die in den Talentschmieden ihre Laufbahn zum Ruhm beginnen. „Die US Open, das war früher unser Superbowl des Tennis", sagt Sampras, der alte Held, „jetzt feiern andere hier ein Fest."