US Open: Victoria Azarenka - "Es war eine Erlösung"
Serena Williams muss weiterhin auf ihren 24. Major-Sieg warten. Victoria Azarenka dagegen darf am Samstag auf einen dritten Grand-Slam-Erfolg hoffen. Sie trifft im Endspiel der US Open 2020 auf Naomi Osaka, die Siegerin von 2018.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
11.09.2020, 12:47 Uhr
Es waren zwar nur ein paar Sekunden, aber für Victoria Azarenka fühlten sie sich wie eine kleine Ewigkeit an. War ihr krachender Aufschlag beim Matchball ein Ass, oder war er doch ganz knapp im Aus gelandet? Der unbestechliche Videobeweis, gefordert von ihrer Gegnerin Serena Williams, musste es am Ende eines furiosen, mitreißenden US Open-Abends entscheiden. Azarenka blickte nervös zur riesigen Anzeigetafel im Arthur-Ashe-Stadion hinauf, schloss in der unwirklichen Stille kurz angespannt die Augen, zitterte „auch ein wenig“ vor lauter Aufregung. Doch im nächsten Moment war das Drama beendet, der Volltreffer bestätigt – und Azarenka hin und weg: „Es war eine Erlösung, ein Wahnsinnsmoment“, sagte die 31-jährige Belarussin später, nach ihrem denkwürdigen 1:6, 6:3, 6:3-Halbfinalsieg gegen Williams (38), die damit weiter vergeblich dem ewigen Grand-Slam-Titelrekord (24/Margaret Court) nachjagt.
Vorbei war auch ein schier endloser Alptraum Azarenkas in den Duellen mit der prägenden Figur des modernen Frauentennis: Denn bis zu diesem 10. September 2020 hatte die „Straßenkämpferin“ (New York Post) noch kein einziges von zehn Grand Slam-Duellen mit Williams gewonnen, auch die Finals 2012 und 2013 im Big Apple waren bitter gegen die Amerikanerin verloren gegangen. Nun aber kann Azarenka auf ihre etwas älteren Tage im Tenniszirkus tatsächlich noch einmal sensationell zum großen Schlag ausholen, dafür muss sie allerdings eine weitere, sehr hohe Hürde im Endspiel gegen die formstarke Japanerin Naomi Osaka überwinden. Osaka, 2018 US Open-Gewinnerin im legendären Finale gegen Serena Williams, schlug am Donnerstag im ersten Halbfinale die Amerikanerin Jennifer Brady mit 7:6 (7:1), 3:6 und 6:3. „Das Schwerste kommt immer zum Schluss“, sagte Azarenka.
Azarenka im Sorgerechtsstreit
Aber weit gekommen war es auch so schon für die frühere Nummer eins. Unerwartet weit. Denn nach Schwangerschaft, Babypause und einem ab 2017 lähmenden, öffentlich ausgetragenen Sorgerechtsstreit um ihren Sohn Leo (3) war Azarenka schon insgeheim abgeschrieben worden als Wettbewerberin um die großen Titel. Azarenka rutschte tief ab in der Hackordnung der Branche, auch weil sie bei vielen großen Turnieren wegen der familiären Turbulenzen gar nicht spielen konnte. Ihre Comebackbemühungen verliefen holprig, 2018 und 2019 kam sie bei den Grand-Slam-Turnieren als Einzelkämpferin nie über die dritte Runde hinaus. Als größter Achtungserfolg blieb noch der Vorstoß ins US-Doppelfinale vor einem Jahr, gemeinsam mit der Australierin Ashleigh Barty.
Zwölf Monate später ist nun als Solistin wieder alles möglich für Azarenka, die Frau mit den schrillsten Kampfschreien auf dem Centre Court. Auch im Rumpfjahr 2020, in den Corona-Wirrungen, war sie lange Zeit nicht in die Spur gekommen. Bis vor drei Wochen das Masters-Turnier von Cincinnati begann, auch auf der New Yorker Turnieranlage ausgetragen, hatte Azarenka in dieser Saison noch gar kein Spiel gewonnen. Dann schlug sie sich überraschend ins Endspiel des Vorbereitungsturniers durch, auch hier hätte Naomi Osaka die Gegnerin sein sollen, aber die Japanerin zog wegen einer Oberschenkelverletzung zurück.
Mit viel Courage gegen Serena
Nach sechs weiteren Siegen, nach einem halben Dutzend äusserst eindrucksvoller Auftritte steht Azarenka vor dem größten Sieg ihrer wechselvollen Laufbahn. Sie wolle nicht „primär als Mutter“ wahrgenommen werden, die das alles geschafft habe, so Azarenka, „sondern als Athletin, die immer an ihre Träume geglaubt hat.“ Azarenka erinnerte sich in der Stunde des ersten Grand-Slam-Coups gegen Williams auch an die Sturm-und-Drang-Zeit im Tennisbetrieb, in der sie als Newcomerin höher und höher stieg, bis auf den Ranglisten-Gipfel. Und in der sie „fast selbstverständlich“ von sich erwartete, in Grand Slam-Finals zu stehen. „Heute, nach all den Erfahrungen der letzten Jahre, weiß ich erst, was wirklich dazu gehört“, so Azarenka, „du brauchst ganz viel Ausdauer, Willenskraft, Courage und Energie. Es ist, als ob du einen Achttausender besteigen musst.“
Hier das Einzel-Tableau der Frauen bei den US Open 2020