Federer in Shanghai klar gescheitert
Der Schweizer war gegen Andy Murray ohne echte Siegchance. Dieser bestreitet nun das Finale gegen Novak Djokovic.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
13.10.2012, 18:32 Uhr

Von Jörg Allmeroth
Selbst der Himmel konnte dem „Maestro“ am Ende nicht mehr helfen. Der Himmel, der ausgerechnet vorAndy Murraysletztem Aufschlagspiel Regen herabschickte – und damit beim Stand von 6:4 und 5:4 noch einmal eine 20-minütige Verzögerung auf der Zielgeraden des Halbfinal-Matchs zwischen dem schottischen Braveheart undRoger Federererzwang. Doch aufgeschoben war letztlich nur aufgehoben für den cool-beherrschten Olympiasieger und US-Open-Gewinner, der sich im Qi-Zhong-Stadion von Shanghai einmal mehr als Spielverderber für Federer präsentierte und nach einem souveränen 6:4,-6:4-Halbfinalsieg verdient ins Endspiel einzog. „Ich habe mich nicht beeindrucken lassen durch die widrigen Umstände“, sagte Murray hinterher – ein Mann, der tatsächlich kühlen Kopf in herausfordernden Momenten bewies und seine bisher makellos weiße Weste in Chinas Boomtown verteidigte. An diesem Sonntag trifft Murray, der Sieger der Jahre 2010 und 2011, nun in einer Wiederholung des US-Open-Finals auf den SerbenNovak Djokovic– der hatte im ersten Vorschlussrunden-Match den TschechenTomas Berdychmit 6:3 und 6:4 ausgeschaltet. „Ich habe alles gegeben, stets versucht, das Spiel offen zu halten“, sagte derweil Federer, „aber der bessere Mann hat gewonnen.“
Federer verteidigte trotz des herben Knockouts zwar vorerst seine Spitzenposition in der Tennis-Hitparade der ATP-Tour, doch die Chance, auch am Ende der Spielzeit 2011 auf dem Gipfel zu thronen, ist mit dem Halbfinal-Scheitern in Shanghai beträchtlich gesunken. Bei seinen anvisierten letzten drei Turnierauftritten in Basel, Paris und dem ATP World Tour Final (Masters) kann Federer wegen seiner Vorjahressiege das laufende Punktekonto bloß stabilisieren, aber nicht verbessern – ganz anders als sein hartnäckigster Verfolger Djokovic, dem eigentlich zugetraut werden darf, die augenblicklich noch 835 Punkte Differenz zu Federer aufzuholen. Allein mit seinem Endspieleinzug in Shanghai macht Djokovic schon enorm Boden gut, hinzu kommt, dass er etwa beim Schlussevent in der Londoner-O2-Arena 2011 schon in der Vorrunde ausgeschieden war und somit eine bloß schmale Verteidigungsposition hat. Fakt ist: Federer hat es nicht mehr selbst in der Hand, den Platz an der Sonne zu halten, jene Nummer-1-Position, um die er so intensiv in der ersten Jahreshälfte gekämpft hatte – er kann nur noch auf Ausrutscher von Djokovic und sogar Murray hoffen, der noch geringe Außenseiterchancen im Rennen um den Top-Spot hat. „Ich wollte Platz eins zurückerobern, das war mein Ziel“, sagte der Schweizer nach seiner Niederlage, „Nummer 1 zu bleiben, wäre ein Bonus. Mehr nicht.“
Federer: "Man merkt bei ihm, über wieviel Selbstvertrauen er derzeit verfügt"
Gegen Murray wirkte Federer mental und spielerisch fast stets in der Defensive, das klare Zwei-Satz-Scheitern bildete die Kräfteverhältnisse durchaus getreu ab. Schwarz auf weiß war abzulesen, wer in der Partie der Aggressor war, also jener Spieler, der entschlossen seine Chancen suchte und ausreichend oft auch nutzte: Während Federer sich nur einen (auch genutzten) Breakball erspielte – bei 0:1-Rückstand in Satz eins –, hatte Murray elf Mal die Möglichkeit, Federers Service zu brechen. Der Schotte war einfach aktiver, mutiger, zupackender, und in den entscheidenden Phasen machte er auch die Big Points, um das Match in die für ihn richtige Richtung zu lenken. Wie fahrig und angespannt der 31-jährige Schweizer dagegen wirkte, bewies auch der Umstand, dass ihm beim 2:2-Gleichstand im ersten Satz der fast historische Fauxpas von drei Doppelfehlern in Serie unterlief – gleichbedeutend mit dem vorentscheidenden 2:3-Breakrückstand. „Ich habe ganz okay gespielt, aber das reichte nicht aus gegen einen Spitzenmann wie Andy“, sagte Federer später etwas matt, „man merkt bei ihm schon, über wieviel Selbstvertrauen er derzeit verfügt.“
So sehr sich Federer auch mühte, er fand an diesem Samstag nicht in einen Takt und Rhythmus, der ihm eine Siegperspektive eröffnet hätte. Das war auch nach den beiden Regenunterbrechungen nicht anders, die das Match im zweiten Satz störten und auseinanderrissen. Leichte Fehler Federers begünstigten Murray auch noch im letzten Servicespiel, in dem er nicht mehr in Gefahr geriet, seine Dominanz und seinen Sieg einzubüßen. Für Federer blieb schließlich die besiegelte 300. Woche an der Spitze der Weltrangliste das schönste Mitbringsel aus Shanghai, gegen Murray war er jedenfalls weit weg von einem Pokalgewinn – mental ebenso wie spielerisch.(Foto: GEPA pictures)