Wie Gustavo Kuerten die Tenniswelt veränderte
1997 gewann Gustavo Kuerten als Nummer 66 der Welt sensationell die French Open. Die neuartige Polyerster-Saite, die er spielte, sollte bald die Tenniswelt auf den Kopf stellen.
von Florian Goosmann
zuletzt bearbeitet:
04.05.2020, 17:36 Uhr
Er kam aus dem Nichts und nahm einen Big Name nach dem anderen raus. Gustavo Kuertens Lauf hatte mit Siegen über Slava Dosedel und Jonas Björkman begonnen, als er aber auch Thomas Muster, den French-Open-Sieger 1995, in fünf brutalen Sätzen aus dem Turnier gefightet hatte, konnte man ahnen: Dieser Mann mag gefährlich werden. Es folgten zwei weitere Fünf-Satz-Siege über Andrej Medvedev und Titelverteidiger Kafelnikov, ein Sieg über Filip DeWulf und im Finale über den zweifachen Paris-Champ Sergi Bruguera. Und Roland Garros hatte einen neuen Liebling, den sympathischen Lockenkopf aus Brasilien mit dem Kanarienshirt und Wackel-Dackel-Kopf (der in Paris auch 2000 und 2001 siegen sollte). Vor allem aber befand sich das Tennis im Umbruch.
Kuerten nämlich spielte, wie auch ein paar andere Pioniere zu jener Zeit, eine Polyester-Saite - die Luxilon Original. Bislang galt die Darmsaite (für Leute mit Kohle), die Nylonsaite (für Otto-Normal-Tennisspieler) oder die Multifilament-Saite (für Arm-Geschädigte) als das Maß aller Dinge. Aber auch im heimischen Verein tauchten in den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren plötzlich die gelben Saiten der Firma Kirschbaum auf, die der Hobbyspieler vor allem aufgrund der Haltbarkeit schätze und die dem Bespanner aufgrund der Starrheit einige Schmerzen in den Fingern bescherte.
Der Profi jedoch schätze etwas anderes: Nämlich den unbändigen Topspin, den er mit seiner Poly-Bespannung kreieren konnte - dank des "Snap-back-Effekts". Unter Beibehaltung der Kontrolle.
Polyester-Saiten - gut oder schlecht fürs Tennis?
Nach und nach wechselten immer mehr Profis zur Poly, wenn auch mit Abstand. Andre Agassi beschrieb in seiner Autobiografie "Open", er habe stets mit einer Kevlar/Nylon-Kombi gespielt. Damit konnte man "einen dreihundertfünfzig Kilo schweren Speerfisch aus dem Wasser ziehen. Sie reißt nie, gibt nie nach, aber ebenso wenig lässt sich damit Spin erzeugen. Es ist, als würde man einen Ball mit einem Mülltonnendeckel schlagen." Sein damaliger Coach Darren Cahill habe ihm 2002 einen Wechsel zur Poly nahegelegt. Er habe im anschließenden Training keinen Ball mehr verschlagen, im darauffolgenden Turnier auch nicht. Es werde immer über neuen Schläger-Technologien gesprochen, aber der wirkliche Umbruch sei durch die Saiten entstanden. Die Polyester-Saite habe "aus mittelmäßigen Spielern Größen gemacht und aus Größen Legenden", so Agassi.
Heute nutzt (fast) jeder Profi eine "Poly", die mittlerweile in allen Varianten und unter Beimischung von neuen Materialien erhältlich ist. Und nicht mehr ganz so starr und hart für den Arm wie zu ihren Anfängen, sondern elastischer. Viele schätzen eine Hybrid-Bespannung - eine Hälfte des Schlägers mit Naturdarm bespannt (für Gefühl und Power), die andere mit Polyester (für Spin und Kontrolle). "Mit Polyester kann man weiter hinten stehen und mit einem größeren Schwung spielen. Und einen leichteren Schläger, um den Schlägerkopf mehr zu beschleunigen", sagt Darren Cahill. Der traurige Nebeneffekt: Der Grundlinienliebhaber kann nunmehr aus allen Positionendes Platzes voll durchziehen, ohne Angst zu haben, dass der Ball in der Bande landet - zum Leidwesen des Netzspielers.
Ob die "Poly" damit gut oder schlecht fürs Tennis ist, bleibt Ansichtssache. Das feine Spiel und die Entwicklung der Netzspieler hat sicherlich gelitten, Tennis ist eindimensionaler geworden. Das Winkelspiel eines Rafael Nadal oder die einhändige, voll durchgezogene Rückhand eines Dominic Thiem und Stan Wawrinka wären uns allerdings ebenso verborgen geblieben.