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Der Held der ganzen Welt

Mit dem achten Triumph in Wimbledon hat Roger Federer eine Marke gesetzt, die auch disziplinübergreifend ihresgleichen sucht.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 17.07.2017, 12:43 Uhr

Roger Federer hat die Leidenschaft zum Beruf gemacht

Von Jörg Allmeroth aus London

Man muss es einmal mit eigenen Augen gesehen haben. Wenn Roger Federer an einem der Spieltage von Wimbledon über die Tennisanlage an der Church Road geht, eskortiert von einem Trupp breitschultriger Bodyguards, dann scheint das Leben stillzustehen in diesem Grand Slam-Paradies. Dann verengt sich die ganze Welt an diesem berühmten Schauplatz nur noch auf ihn, auf King Roger, auf den größten Champion, den das Tennis je gekannt hat. Aber es ist kein Unnahbarer, der sich durch die Menschenmassen schiebt. Keiner dieser Egoshooter, die es inzwischen im professionellen Sport zur Genüge gibt. Keiner, der die eigene Bedeutung wie eine Monstranz vor sich her trägt. "Ich bin glücklich, wenn meine Fans glücklich sind", ist so ein Satz, den Federer sagt. Nicht, weil es sich gut anhört. Sondern, weil das er ist. Der Mensch Federer. Einer, mit dem man einfach gerne am Abend ein Bier oder ein Gläschen Wein trinken würde.

Federer ist der herausragende Einzelsportler dieser Epoche, er hat gerade zum achten Mal Wimbledon gewonnen, es ist ein nun einsamer Rekord an dem Schauplatz, der im Tennis alles noch ein bisschen größer macht als anderswo. Er hat seinen Sport, das Tennis, weit über dessen Grenzen hinaus transportiert und größer gemacht. Er, der Tennis-König, wird bewundert von echten Königen und von Staatsoberhäuptern, er tauscht sogar wie selbstverständlich ein Küsschen mit Kate aus, der Gemahlin des Prinzen William, wie am Sonntagabend nach seinem historischen Sieg. Er wird von der Stargeigerin Anne-Sophie Mutter gerühmt, man müsse seiner "poetischen Spielweise verfallen". Er ist der Held der ganzen Welt, so scheint es.

Keine Allüren, keine Affären

Aber es gibt eben mit völliger Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit auch den anderen Federer, überall dort, wo er noch seine Centre Court-Einsätze hat. In Wimbledon, aber etwa auch bei den Gerry Weber Open - wo er kürzlich den neunten Titel gewonnen hat - kann man Federer beobachten, wie er nach einem Match Hunderte Autogramme schreibt, mit Fans für Selfies posiert, sich mit ihnen austauscht wie ein Nachbar über den Zaun. Ein Superstar zum Anfassen, es klingt wie eine hohle, abgedroschene Phrase, aber dieser 35-jährige Super-Champion ist es. Federer war noch gar nicht so erfahren, so reif, so abgeklärt und lebensweise, als er einmal seine Maxime verkündete: "Es ist nett, wichtig zu sein. Aber noch wichtiger, nett zu sein." Er hat diese Einstellung auch nie verraten. Es gibt keine Allüren bei ihm, auch keine Affären.

In diesem Jahr ist Federer endgültig zum Mythos geworden. Für seine Fans sowieso. Aber auch für Medien, Profikollegen und ehemalige Größen des Tennis. 2016 hatte er sich in Wimbledon am Knie verletzt, er entschied sich dann zu einer radikalen Lösung. Er beendete die Saison, zog sich zurück, kurierte die Blessur aus. Und dann passierte etwas, was niemand für möglich gehalten hatte. Federer kehrte zu Saisonbeginn zurück, nach sechs Monaten ohne Wettkampftennis, und gewann auf Anhieb bei seinem Comeback den 18. Grand-Slam-Titel in Melbourne, gegen seinen alten Weggefährten Rafael Nadal. Es war ein Märchen, ein Wunderding. "Eine Story wie aus Hollywood", wie Federer selbst sagt. Er hat selbst noch immer alle Mühe, sich das Unerklärliche zu erklären. Manchmal wacht er auch jetzt noch morgens etwas verwirrt auf, weil er nicht glauben kann, was er da geschafft hat. "Du denkst: Ist das so passiert? Oder ist es ein Traum gewesen", sagt Federer, "und dann, wenn du weisst, es stimmt alles, ist wieder dieses unglaubliche Glücksgefühl da. Und es geht nicht weg." Niemals seien die Emotionen nach einem Erfolg so stark, so intensiv und so nachhaltig gewesen wie nach jener Australian Open-Nacht. Noch stärker als jetzt beim Erfolg in Wimbledon sogar.

Die Leidenschaft als Beruf

Jetzt liegen sie ihm natürlich alle zu Füßen. Mehr denn je. Auch jene, die ihm auch schon mal diskret nahegelegt hatten, doch vielleicht endlich die Freuden des Ruhestands zu genießen. Der frühere Superflegel und Weltranglisten-Erste John McEnroe erhob Federer in Melbourne und nun auch in Wimbledon zum "Tennisgott", dabei hatte er vorher getönt, er glaube nicht, "dass Federer noch mal einen großen Titel gewinnen kann." Federer? "Er ist der Größte aller Zeiten", sagt Boris Becker, bis vor kurzem noch Chefcoach des Federer-Rivalen Novak Djokovic. Federer war von Becker nie abgeschrieben worden: "Wenn du gegen einen nicht wetten willst, dann gegen Roger."

Was aber treibt ihn eigentlich noch an, diesen imponierendsten Riesen, den es derzeit auf dem Planeten Sport gibt? Was motiviert den Mann, der mit Mitte Dreissig, als Vater von Zwillingsmädchen und -söhnen, längst den Schläger zur Seite gelegt haben könnte? Was bewegt den großen Meister, dessen Vermögen auf 500 Millionen Dollar geschätzt wird, noch zu der tagtäglichen Plackerei - und zu diesen schweren Comebacks nach Verletzungsqualen? Federer muss da nicht lange überlegen, er strahlt übers ganze Gesicht, als er sagt: "Ich hatte immer Freude an dem, was ich gemacht habe. Es gab noch keinen Tag, an dem ich keine Lust aufs Tennis hatte, an dem ich mich zum Training hätte quälen müssen." Sein Privileg sei gewesen, "dass ich mein Hobby, meine Leidenschaft zum Beruf machen konnte." Schwer sei der Aufstieg ins Erwachsenentennis gewesen, "frustrierend auch viele Erfahrungen als junger Profi", so Federer, "aber ich hatte doch die nötige Härte, um das durchzustehen": "Man kann nicht gleich aufgeben, wenn einem der Wind ins Gesicht bläst."

Wie eine Sucht

Federer hat alle Rekorde im Tennis pulverisiert, er hat die Geschichtsbücher mit Leichtigkeit umgeschrieben, er hat Wimbledon und andere Centre Courts in seine zweite Heimat verwandelt. Er ist der Spielverderber für ganze Profigenerationen gewesen, der charmante Allesgewinner aus der kleinen Schweiz. Doch über die Jahre hat er sich gleichwohl die Gier der großen Champions bewahrt, den ewigen Drang nach weiteren Trophäen und Titeln. Der ältere Mann und das Mehr? "Du wirst nicht satt durch die großen Erfolge", sagt Federer, "du willst tatsächlich mehr. Du willst diese Gänsehaut-Momente noch einmal erleben. Noch mal einen Grand Slam gewinnen, noch einmal Wimbledon, noch einmal die Weltmeisterschaft. Das steckt in den Genen drin. Das ist wie eine Sucht."

Der Reiz, der Thrill, die Spannung und Anspannung der großen Matches - noch braucht er das auch zu seiner inneren Zufriedenheit. "Es ist immer ein wunderbares Gefühl, auf einem der großen Centre Courts spielen zu können, diese Atmosphäre zu spüren, ein Duell gegen einen Topmann zu haben", sagt Federer. Bis heute läßt ihn das Lampenfieber vor dem Bühneneinsatz nicht los, eine gewisse fiebrige Nervosität: "Das brauchst du einfach, um Großes zu leisten. Du musst nur lernen, es in positive Energie umzusetzen."

Karriere am Scheideweg

Federer weiß, wovon er spricht: Als Junior war der Gentleman noch ein kleiner Radaubruder auf dem Platz, er warf mit Schlägern um sich, zertrümmerte die Rackets, legte sich mit Schiedsrichtern an, fluchte gern mal in nicht druckreifen Worten. "Irgendwann sagte ich mir: Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder wirst du jetzt ruhiger. Oder du hörst auf. Denn sonst wird das nichts mit deiner Karriere." 2003 gewann er dann den ersten von acht Wimbledon-Titeln, es war der Durchbruch, die Befreiung auch von allen Selbstzweifeln: "Danach war ich ein verwandelter Spieler. Ich wußte immer, dass ich gut sein kann. Aber es zu beweisen, in diesem Tennistheater, das war eine andere Geschichte."

Als Federer im letzten Jahr nach Wimbledon den Schläger für Monate zur Seite legen musste wegen seiner Verletzungsprobleme, hatte er auch erst ein "bisschen Angst". Vor der langen Pause, vor der Zeit ohne Turniertennis, "ohne diesen wichtigen Teil deines Lebens." Doch schnell entdeckte er die Freuden des völlig ungetakteten Daseins, die Unabhängigkeit von Trainingsplänen und Wettkampfpflichten. "Ich habe mir einfach gesagt: Mach was draus, entdecke die Möglichkeiten, die du hast. Und es war einfach interessant, mal nicht zu wissen, was ein neuer Tag bringt", sagt Federer. Er spürte in dieser Zeit auch eine Veränderung bei sich selbst, nämlich das noch viel größere Interesse an anderen Menschen und deren Lebens- und Karriereweg: "Ich war früher immer sehr auf mich selbst bezogen. Das ist vielleicht auch nichts Ungewöhnliches in unserer Branche", sagt Federer, "jetzt interessiert mich aber plötzlich, wie ein Modedesigner, ein Architekt oder ein Filmregisseur arbeiten. Das ist eine Quelle zur eigenen Inspiration geworden. Etwas, woraus ich Kreativität schöpfe."

Keine offenen Rechnungen

Es gab Szenen in Melbourne und auch in London, die sich ins Gedächtnis eingebrannt haben: Wie Federer nach dem Abgang vom Centre Court in die Katakomben der Arenen marschierte und dann zuallererst seine Frau Mirka für lange, innige Momente umarmte - beide tränenüberströmt. Und wie er dann auch seine vier Kinder an sich drückte und herzte. "Mein Glück im Tennis ist heute anders, vielfältiger geworden", sagt Federer, "mein Glück ist eben auch, dass ich mit meiner Familie um die Welt reisen kann, dass wir dabei eine glückliche Familie sind." Noch müsse seine Frau die Hauptlast in der Familie schultern, "sie hält mir den Rücken frei für mein Tennis": "Aber das wird sich ändern, wenn ich mal nicht mehr spiele. Dann bin ich auch froh, wenn ich noch mehr Zeit für die Kinder habe."

Federer hat sich nach den Triumphen in dieser Saison in eine eigene Tennis-Dimension katapultiert. Er ist die Legende seiner selbst. Auch die nächsten Monate werden Festtage in einer Endlosschleife sein, abseits aller sportlichen Ergebnisse. Federer wird es genießen. Und er will es genießen: "Ich freue mich einfach über die Anerkennung, die Zuneigung der Menschen. Das beflügelt mich, macht mich stärker", sagt Federer. Einige gute Jahre gibt er sich noch, der kämpferische Tennis-Ästhet, fast bis an die 40 will er in der Welt herumreisen. Ein Traumszenario für den Abschied hat er nicht: "Ich werde merken, wenn es soweit ist. Ich habe aber keine Furcht vor diesem Moment."

von Jörg Allmeroth

Montag
17.07.2017, 12:43 Uhr