Erwachsenwerden vor der ganzen Welt
Tennisprofis stehen unter Dauerbeobachtung. Gehen Zuschauer und Medien mit vielen Spielern zu hart ins Gericht, wenn sie sich Fehltritte leisten?
von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet:
07.07.2017, 22:16 Uhr
Wimbledon, das bedeutet Traditionen, Erdbeeren mit Sahne, weiße Kleidung und meist auch gutes Benehmen. Das prestigeträchtigste Tennisturnier der Welt ist aber nicht nur randvoll mit Besonderheiten, die gepflegt werden, sondern auch reich an Skandalen. In Wimbledon stehen die Spieler und Spielerinnen noch mehr im Fokus als sonst wo. Ein Fehltritt oder ein fragwürdiges Benehmen schlägt schnell hohe Wellen - gerade im digitalen Zeitalter, wo alles per Bild und Video dokumentiert wird. Im letzten Jahr gab es den "Pinkel-Skandal" um Pablo Cuevas, der in einem Marathondoppel nach einer verweigerten Toilettenpause in eine Balldose uriniert haben soll. Viktor Troicki rastete nach einer vermeintlichen Fehlentscheidung aus und beschimpfte den Schiedsrichter: "Du bist der schlechteste Schiedsrichter auf der Welt. Du bist ein Idiot. Es tut mir leid, aber ich muss dir das sagen."
Keine dauernde Brandmarkung
In Erinnerung geblieben ist auch die Schimpftirade von Jeff Tarango gegenüber Schiedsrichter Bruno Rebeuh im Jahr 1995. "Du bist der korrupteste Offizielle in der Szene", schrie Tarango und verließ nach der zweiten Verwarnung wutentbrannt den Platz. In diesem Jahr sind es also Bernard Tomic und Daniil Medvedev, die für die Skandale in Wimbledon gesorgt haben. Tomic gab nach seinem Erstrunden-Aus offen zu, dass er sich auf dem Platz gelangweilt habe, dass ihm die Motivation fehle, aber Tennis wahrscheinlich noch viele Jahre spielen werde, um später "dann nie mehr arbeiten zu müssen". Medvedev warf nach seiner Niederlage Münzen in Richtung des Schiedsrichterstuhls. Der 21-jährige Russe gab sich anschließend reumütig, bestraft wurde er trotzdem mit insgesamt 14.500 US-Dollar für dieses und anderes Fehlverhalten. Tomic traf es noch härter, er wurde mit 15.000 US-Dollar sanktioniert. Zudem löste sein Schlägerausrüster HEAD den Vertrag auf.
Die Geldstrafen sind gerechtfertigt, auch als abschreckende Wirkung. Was aber nicht sein sollte, ist, dass Spieler und Spielerinnen für ihr Fehlverhalten auf Dauer gebrandmarkt werden. Man muss immer dabei bedenken, dass es sich bei vielen Protagonisten um junge Erwachsene im Reifeprozess handelt. Tomic ist 24 Jahre alt, Medvedev 21. Nick Kyrgios, dessen Vita bereits voll ist mit diskussionswürdigem Verhalten, ist 22 Jahre alt. Die meisten Spieler starten als Teenager ihre Profikarriere, stehen aber schon oft in der Juniorenzeit im Fokus der Öffentlichkeit.
Spieler stehen unter Dauerbeobachtung
Tennis ist eine der komplexesten Sportarten, der Kopf spielt oft die wichtigste Rolle. Seine Emotionen zu kontrollieren und in positive Bahnen zu lenken, ist eine der größten Herausforderungen. Für den Amateurspieler ist es oft beeindruckend zu sehen, wie ruhig es bei den Profis zugeht im Vergleich zum Breitensporttennis, wo am laufenden Band geschimpft, geflucht und gepöbelt wird (ein Beispiel unten im Video). Der große Unterschied: Es sind fast nie Kameras, Mikrofone dabei, die deine Aktionen und Worte aufzeichnen, um sie dir immer wieder vorzuspielen und vorzuhalten. Wer Spieler für ihr Fehlverhalten auf dem Platz kritisiert, sollte darüber nachdenken, wie man sich in jenem Alter verhalten hat, wie reif man war und ob man sich damals seiner Selbst schon bewusst war.
Tennisprofis werden in ihren Matches von Kameras auf Schritt und Tritt verfolgt. Jede Gefühlsregung kann als Closeup eingefangen werden. Die Zuschauer vor Ort können dir oft direkt ins Gesicht schauen, der Spieler steht stets unter Dauerbeobachtung und spürt die Blicke aus allen Richtungen. Die Distanz von Zuschauer zum Spieler ist bei anderen Sportarten, zum Beispiel im Fußball, viel größer. Man muss sich selbst die Frage stellen, wie es für einen wäre, wenn Kameras den eigenen Arbeitsalltag begleiten würden. Natürlich haben sich die Spieler diesen Beruf ausgesucht, doch wer ein gewisses Phlegma besitzt, hat es schwer in einer extrem medialen Sportart wie Tennis. Ein Spieler, der ungern in der Öffentlichkeit steht, aber trotzdem in der Lage ist, Weltklassetennis zu spielen, kann daran zerbrechen. Siege sorgen für mehr Aufmerksamkeit, für noch mehr Öffentlichkeit. Ein Teufelskreis für introvertierte Spieler wie beispielsweise Kei Nishikori. Man kann manchmal den Eindruck gewinnen, dass Spieler mit einem gewissen Phlegma gar nicht so böse darum sind, wenn sie früh verlieren, damit ihnen nicht so viel Aufmerksamkeit zuteil wird.
Fehltritte gehören im Reifeprozess dazu
Als Tennisprofi wird man erwachsen vor der ganzen Welt, dessen sollte man sich bewusst sein, wenn man diesen Berufsweg einschlägt. Fehltritte gehören in diesem Reifeprozess dazu. Bei manchen Spielern geht der Reifeprozess schneller voran, bei einigen vollzieht er sich sehr zögerlich. Im Tennis geht es darum, seine eigenen unerzwungenen Fehler schnellstmöglich abzuhaken, zu akzeptieren und sich dafür nicht selbst zu verfluchen. Genauso sollte es auch in den meisten Fällen sein, wenn es um das Fehlverhalten von Spielern geht. Viele Fehltritte entstehen im Eifer des Gefechtes, wenn Emotionen im Spiel sind. Und wer kennt ihn nicht in seinem Tennisverein: den dauerfluchenden, pöbelnden Spieler, für den man sich manchmal fremdschämen muss, der aber nach dem Match die liebenswürdigste Person ist, die man sich vorstellen kann. Bei den Profis kann hier Andy Murray als Beispiel herhalten.
Zurück zum Fall Tomic: Die Aussagen des Australiers sind frag- und diskussionswürdig, aber sie waren authentisch und machen auch ein Stück weit traurig. Tomic war sich der Tragweite seiner Worte wahrscheinlich nicht bewusst. Es könnte dazu führen, dass Spieler noch mehr darüber nachdenken, was sie sagen, wenn sie hohe Strafen befürchten müssen. Man kann zu Tomic, Kyrgios & Co. stehen, wie man möchte. Ohne sie wäre die Tour etwas langweiliger.