„ Kindheit wurde mir gestohlen“ – Timea Bacsinszky spricht über ihr Seelenleben

Timea Bacsinszky erzählt in der „L’Équipe“ ihre Lebensgeschichte und lässt kein gutes Haar an ihrem Vater.

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 20.03.2015, 17:01 Uhr

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Timea Bacsinszky ist die Spielerin der Stunde auf der WTA-Tour. Die Schweizerin hat dieses Jahr bereits 21 Matches gewonnen und errang bis zum Viertelfinale beim WTA-Premier-Mandatory-Turnier in Indian Wells 15 Siege in Folge (unter anderem Turniersiege in Acapulco und Monterrey).Es brauchte erst die Weltranglisten-Erste Serena Williams, um die Siegesserie der 25-Jährigen zu stoppen. Und wenn Bacsinszky nicht auf Williams getroffen wäre, würde ihr Märchen vielleicht noch anhalten. „Sie hat nicht nur eine große Zukunft, ihre Zukunft ist schon jetzt“, sagte Williams nach ihrem Sieg über die Schweizerin, die nun kurz vor dem erstmaligen Einzug in die Top 20 steht.

„Ich habe mich vor der Realität versteckt“

Dabei ist es fast schon ein glücklicher Zufall, dass Bacsinszky überhaupt noch professionelles Tennis spielt. Gegenüber der französischen Sportzeitung „L’Équipe“ erzählte die Senkrechtstarterin ihre spannende, bewegende und auch traurige Lebensgeschichte. „Vor genau zwei Jahren habe ich einen Termin vereinbart, um mein Praktikum in einem 5-Sterne-Hotel zu beginnen. Für mich war es mit Tennis vorbei, ich wollte nicht mehr spielen. Ich habe meinem Freund gesagt: ‚Okay, gut, ich werde Kaffee servieren in Cafés.’ Und ich hätte das auch geliebt“, erzählt sie. Eine E-Mail der French-Open-Veranstalter im Jahr 2013 mit der Frage, ob sie an der Qualifikation teilnehmen möchte, brachte sie zum Umdenken. Bacsinszky roch wieder Lunte, spielte in Paris und begann ihren langsamen, aber stetigen Aufstieg in der Weltrangliste.

Die Schweizerin spielte bereits mit 15 Jahren für das Fed-Cup-Team und gewann im Jahr 2009 ihr erstes WTA-Turnier. Ein Jahr später war sie die Nummer 37 in der Welt – im Alter von 20 Jahren. Doch Verletzungen, mentale Probleme und eine unprofessionelle Einstellung gegenüber dem Tennissport ließen sie schnell wieder zurückfallen in die Niederungen der Weltrangliste. „Wenn ich bedenke, was ich zuvor für eine Athletin war, – Athletin in Anführungszeichen, weil ich in einer unterdurchschnittlichen Verfassung war – weiß ich nicht, wie ich es fertiggebracht habe, die Nummer 37 zu sein. Ich war extrem clever, habe das Spiel der anderen gut gelesen, aber ich habe nie an meinem Spiel gearbeitet. Es war die Weiterführung der Welt, in die ich hineingestellt wurde. Es ist eine Sache, Ruhm, Geld und all die glänzenden Dinge zu haben, aber ich war keine glückliche Person. Ich habe mich vor der Realität versteckt.“

„Zuchttier, das mich in einen Käfig steckte“

Dass es Bacsinszky damals so schlecht ging, lag auch an ihrem Vater Igor, der die Karriere seiner Tochter generalstabsmäßig plante, dabei aber das Wohlergehen seines Kindes vernachlässigte. Igor Bacsinszky ist keine Ausnahme im großen und weiten Tennis-Kosmos. In der Vergangenheit haben viele Tennisväter negative Schlagzeilen gemacht (lest hier unsere Geschichte: „Pöbeln, provozieren, prügeln – die schlimmen Tennisväter“).Zuletzt sorgte der Fall Andrada Ioana Surdeanu für Wirbel. Die 16-jährige Rumänin wurde von ihrem Vater bei einem Jugendturnier blutig geohrfeigt. Die Teenagerin nahm ihren Vater dennoch in Schutz. Bei Bacsinszky ist das Verhältnis zu ihrem Vater nicht mehr existent. Gegenüber der „L’Équipe“ öffnete sich die Schweizerin und erzählte von den Geschehnissen in ihrer Jugend.

Ihren Vater bezeichnete sie als „Zuchttier“, das sie „in einen Käfig steckte“. „Ich hatte keine coole Kindheit. Ich erinnere mich, dass es Hotlines für Kinder gab, die nicht gut behandelt werden. Der Gedanke, die Hotline anzurufen, hat mich innerlich aufgefressen. Aber ich hatte Angst, dass er auf der Telefonrechnung sehen würde, dass ich diese Nummer gewählt habe und ich dadurch noch mehr Probleme hätte. Ich wurde nie geschlagen. Ich habe ein paar Klapse bekommen, er hat mich an den Haaren gezogen. Es war meist psychologisch. Ich dachte ans Weglaufen. Ich habe im Internet gesucht, um herauszufinden, wie man erfolgreich wegläuft. Ich litt an dem ‚aggressive Elternsyndrom’, das im Tennis weit verbreitet ist. Wir wissen immer noch nicht alles. Die WTA zeigt lieber all die schönen Geschichten. Aber wenn ich mich umschaue und mir die Statistiken anschaue... Aus meiner Sicht sind Eltern nicht als Trainer geeignet. Jedes Elternteil kann einem Kind zeigen, wie man Tennis spielt. Es reicht, wenn du Bücher liest. Aber danach musst du dich als Elternteil zurücknehmen.“

„Es war der schlimmste Tag in meinem Leben“

Ihre Mutter, eine Zahnärztin, nimmt Bacsinszky in Schutz („Sie hat sich um das Geld verdienen gekümmert. Sie konnte nicht alles sehen und wissen.“). Doch an ihrem Vater lässt sie kein gutes Haar. „Mein Vater hat sich nie um mich gekümmert, außer auf dem Tennisplatz. Ich hatte keinen Vater. Ich sehe ihn nicht mehr und spreche nicht mehr mit ihm. So wird es auch bis zum Ende bleiben. Meine Kindheit wurde mir gestohlen, meine Jugendzeit wurde mir ebenfalls gestohlen. Die schlimme Sache ist, dass ich wahrscheinlich besser gespielt hätte, wenn er mich atmen gelassen hätte. Er hatte dieses ungesunde Verlangen nach Glanz, dass er bekannt wird und ihn die Leute dann als besten Trainer bezeichnen. Um das zu sein, war es kein Problem für ihn, mich anzuschreien. Geld? Er wollte sicherlich sein Leben in einem Palast beenden. Als ich meinen ersten Sponsor bekam, hat er seine Arbeit gekündigt, um mein Trainer zu werden. Es war der schlimmste Tag in meinem Leben.“

Die Abkapselung von ihrem Vater ist Bacsinszky wie vielen anderen Spielerinnen, die unter einem dominanten Vater gelitten haben, gelungen. Dennoch haben die Ereignisse in ihrer Kindheit Spuren hinterlassen. „Ich arbeite seit zwei Jahren mit einem Psychologen zusammen. Ich verstehe nun völlig, warum ich vorher nicht mehr tun konnte. Weil, wenn ich Erfolg gehabt hätte und ich dadurch glänzen würde, hätte auch er geglänzt. Die Leute fragen mich, wie ich es geschafft habe, von Drogen und Alkohol fernzubleiben, nachdem was ich ausgehalten habe. Zu einer Zeit bin ich viel in Lausanne ausgegangen. Ich muss ein trauriger Anblick gewesen sein, denn während dieser Tage habe ich auf der Couch festgeklebt. In mancher Hinsicht war es gut, dass ich mich verletzt habe“, erzählt Bacsinszky, die sich 2012 am Fuß verletzte. Ihren zweiten Karriereweg hat die 25-Jährige vorerst verschoben. Jetzt ist erst einmal ihre „zweite Karriere“ im Tennis angesagt. „2013 habe ich ein Praktikum in einem Schlossgarten in Villars begonnen. Im September wäre ich auf die Hotelschule gegangen. Vielleicht kehre ich später zurück.“(Text: cab)

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20.03.2015, 17:01 Uhr