Andy Murray - "Stolz jeden Tag das Beste gegeben zu haben"
Mit Andy Murray nimmt ein ganz Großer des Tennissports seinen Abschied - auf und neben dem Court.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
05.07.2024, 13:10 Uhr
Als Andy Murray am späten Abend dieses 4. Juli gefragt wurde, was sein Vermächtnis im Tennis sei, blickte er auf seine schwierige Karriere genau so wie auf das größere Happy-End auf den weltweiten Centre Courts zurück. Nichts sei ihm in den Schoß gefallen, sagte Murray, es sei eine Achterbahnfahrt mit vielen Höhen und eben auch Tiefen gewesen, mit Siegen, Euphorie, Glücksgefühlen. Mit Verletzungen, Operationen, langen Pausen, Frustrationen, manchmal Verzweiflung und Wut. Aber eins könne er felsenfest von sich behaupten: „Ganz egal, wie es mir gerade ging. Ich bin in jedes Spiel und in jedes Training wieder mit absoluter Hingabe gegangen. Mit 100 Prozent Leidenschaft.“ Immer das Beste gegeben zu haben, sagte Murray, sei der Grund, „warum ich mich jetzt stolz zurückziehe.“
Keine Frage: Man muss nicht 20 und mehr Grand Slams gewonnen haben, um als einer der Größten seiner Zeit und überhaupt in der Geschichte seines Sports zu gelten. Murray, der am Donnerstag auf dem Centre Court nach einem verlorenen Doppelmatch an der Seite seines Bruders Jamie bewegend verabschiedet wurde, zählt zu dieser Kategorie Spieler. Denn gegen eine ganze Armee von Skeptikern und Zweiflern, gegen Untergangsredner und Spötter etablierte sich der schottische Braveheart in der engsten Weltspitze, wurde dreimaliger Grand Slam-Champion, zweimaliger Olympiasieger und Weltranglisten-Spitzenreiter. „Ich hätte nie zu träumen gewagt, wohin mein Tennisleben führen würde“, sagte der 37-jährige Kämpfer, der vom britischen Zeitungsboulevard einst als „Leichtmatrose Popeye ohne Spinat“, als „geborener Verlierer“ oder auch „ewiger Zweiter“ abgekanzelt worden war.
Murray triumphiert in Wimbledeon 2013
Tränenreich blickte Murray bei den Goodbye-Zeremonien auf Wimbledons Hauptwiese zur Videowand, auf der die eindringlichsten und einprägsamsten Szenen von zwei Tennis-Jahrzehnten abgespielt wurden. Und natürlich ragte ein historischer Moment heraus, jener Triumph am 7.7.2013, der eine 77-jährige Titeldürre für das Gastgeberland des berühmtesten Grand Slams beendet hatte – mit Murrays Sieg gegen Novak Djokovic, der im übrigen wie viele andere Superstars an diesem Abend Spalier stand für Murray. Der Schotte hatte mit dem Sieg einem kuriosen Fakt die Krone aufgesetzt. Denn in Wimbledon hatte Murray durchaus schon einmal gewonnen, 2012 bei den Olympischen Spielen an der Church Road – nur eben nicht Wimbledon selbst, das Turnier der Turniere.
Murray wird nicht nur für seine größten Siege in Erinnerung bleiben, die er nach dem Eindruck von Roger Federer errang, „obwohl er es wegen des Drucks daheim so schwer hatte wie kein anderer im Circuit.“ Der Unermüdliche aus Dunblane war auch stets ein Avantgardist und Trendsetter in seinem Sport, eine Stimme der Vernunft. Früh setzte er sich für mehr und wirkliche Gleichberechtigung ein, forderte die Angleichung der Preisgelder bei Herren und Damen, beschäftigte als erster Spitzenspieler mit Amelie Mauresmo eine Trainerin. Und auch die Epoche der Supercoaches begann mit Murrays Verpflichtung des bärbeißigen Altmeisters Ivan Lendl, mit dem zusammen der legendäre Erfolgsmoment 2013 gelang. Am Ende seiner Karriere war der nie aufgebende, nie resignierende Murray nichts weniger als eine universelle und globale Kultfigur, geliebt von den Fans, geschätzt vor allem auch von seinen Kolleginnen. „Andy ist ein Idol, eine Ikone des Tennis“, sagte Martina Navratilova, „er hat auf und neben dem Platz Unglaubliches geleistet.“
“Auf der Heimfahrt ins Taxi gekotzt”
In seinen Trotz- und Flegeljahren hatte Murray gern mal die Volksseele gegen sich aufgebracht und die Londoner Blätter erhitzt. Etwa, als er auf die Frage, wem er bei der Fußball-WM die Daumen drücke, zum Besten gab: „Jedem, der gegen England spielt.“ Aus dem Stirnrunzeln über diesen kratzbürstigen Burschen wurde innige Liebe über einen Fighter, der sich selbst mit künstlicher Hüfte noch einmal zurückrackerte in den Tourzirkus und Comeback über Comeback schaffte. Als er am vierten Wimbledon-Tag 2024 nun geehrt und gefeiert wurde auf dem heiligen Centre Court, blieb kein Auge auf den Rängen und bei seiner versammelten Familie um Ehefrau Kim, Mutter Judy und Vater Will trocken. Die Rührung war groß, aber auch das Gelächter über manch trocken vorgetragene Episode des Bravehearts. So bekannte Murray, nach dem zweiten Wimbledonsieg 2016 so intensiv gefeiert zu haben, „dass ich anschließend auf der Heimfahrt ins Taxi kotzen musste.“
Gern würde er ewig weiterspielen, sagte Murray beim Abschluß-Interview mit der langjährigen BBC-Starmoderatorin Sue Barker, „denn es gibt nichts, was ich an diesem Sport nicht mag oder sogar hasse.“ Aber nun sei er bereit für das Ende, so Murray, „ich weiß, dass die Zeit gekommen ist.“ Nur noch ein großer Abschiedsmoment wird folgen: Bei den Olympischen Spielen in Paris, zwölf Jahre nach seinem ersten Goldmedaillen-Coup.