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Das Verletzungspech der Deutschen

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 21.04.2016, 07:25 Uhr

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Als Andrea Petkovic in ihrem Achtelfinale beim WTA-Turnier in Stuttgart umknickte, wurden bei mir sofort Erinnerungen an eine Szene wach, die sich vor etlichen Jahren abspielte. Es war im Oktober 1995 beim ATP-Turnier in Wien, als Michael Stich beim Erlaufen eines Balles auf dem Hallenboden böse umknickte und sich anschließend vor Schmerzen krümmte. Stich zog sich einen Bänderriss zu und fiel für den Rest des Jahres aus.

Bei Petkovic sah das Umknicken im Vergleich zu Stich etwas weniger schlimm aus, aber die anschließende Diagnose verhieß Schlimmes: doppelter Bänderriss und Überdehnung eines dritten Bands und des Syndesmosebands. „Das kann doch nicht wahr sein“, schoss es den meisten Beobachtern durch den Kopf. Beim Fed Cup feierte Petkovic nach über 100 Tagen Verletzungspause gerade erst ihr Comeback. Eine ungewöhnliche Verletzung im Iliosakralgelenk im Rücken, die es laut Angaben der Hessin weltweit nur 29-mal gab, führte zur Zwangspause. „Da habe ich wirklich den Jackpot geknackt“, kommentierte Petkovic ihre Verletzung gewohnt humorvoll.

Und nun im dritten Spiel nach ihrer Rückkehr der nächste Schock für die lebenslustige Darmstädterin. Der Deutschen klebt wahrlich das Pech an ihren Tennisschuhen. Im Vorjahr hatte sich Petkovic eindrucksvoll in die Top 10 gespielt. Die Darmstädterin tanzte dabei auf der Rasierklinge, als sie die Warnungen der Ärzte und ihrer Familie ignorierte und trotz einer schwerwiegenden Knieverletzung Turnier um Turnier spielte. Nach einer Erholungsphase startete Petkovic so fit wie noch nie in die neue Saison. Doch der Ermüdungsbruch im Rücken warf die damalige Weltranglisten-Zehnte wieder zurück. Ihr Vorhaben, noch tiefer in die Weltspitze vorzudringen, wurde vorerst gestoppt. Bereits zum Karrierebeginn auf der WTA-Tour musste Petkovic einen schweren Rückschlag hinnehmen. Bei den Australian Open 2008 riss ihr in der ersten Runde bereits nach zwei Minuten Spielzeit das Kreuzband – über sechs Monate fiel die Deutsche dadurch aus. Die Frage stellt sich, was möglich gewesen wäre für Petkovic, wenn sie von ihrem großen Verletzungspech verschont geblieben wäre. Es scheint so, dass sich hartnäckige und langwierige Verletzungen wie ein roter Faden durch die Karrieren deutscher Spieler und Spielerinnen ziehen.

Beispiel Sabine Lisicki: Die Berlinerin gewann mit 19 Jahren ihr erstes Turnier, stand in Wimbledon im Viertelfinale und war drauf und dran die Top 20 zu entern. 2010 verletzte sich Lisicki am Knöchel. Eine Fehldiagnose der amerikanischen Ärzte führte dazu, dass die Deutsche wochenlang auf Krücken gehen musste und ein halbes Jahr ausfiel. Doch die Folgen der Verletzung zogen sich noch weit länger hin. Lisicki stürzte auf Platz 218 in der Weltrangliste ab und schaffe im vergangenen Jahr ein sensationelles Comeback. Doch seitdem kam es immer wieder zu kleinen Rückschlägen, die einen Top-10-Einzug von Lisicki verhinderten. Im Oktober 2011 erlitt Lisicki in Peking eine lebensbedrohliche Lebensmittelvergiftung. In diesem Jahr machte ihr eine Viruserkrankung zu schaffen. Zudem knickte die Deutsche beim Turnier in Charleston um und ist seitdem außer Gefecht gesetzt.

Beispiel Tommy Haas: Besonders beim Wahl-Amerikaner fragt man sich, wie seine Karriere ohne größere Verletzungsprobleme verlaufen wäre. Insgesamt zwölf Grand-Slam-Turniere musste Haas aus unterschiedlichen Gründen absagen. Die Leidenszeit ging los, als Haas seinen Start beim Wimbledonturnier 2002 absagte. Seine Eltern wurden bei einem Motorradunfall schwer verletzt. Vater Haas lag daraufhin sogar im Koma. Haas war kurz zuvor die Nummer zwei der Welt. Ein Grand-Slam-Sieg und die Besteigung des Weltranglistenthrons waren durchaus realistisch. Für den Deutschen kam es noch schlimmer. Haas musste sich zweimal an der Schulter operieren lassen und fiel für das Jahr 2003 komplett aus. Nach 15 Monaten Pause gab es 2004 ein erfolgreiches Comeback. Am Ende des Jahres stand er schon wieder auf Platz 18. Beim Wimbledonturnier 2005 kam es in der zweiten Runde zum nächsten unglücklichen Ereignis. Haas rutschte beim Einspielen auf einem Ball aus, knickte um und musste im Matchverlauf wegen eines später diagnostizierten  Bänderrisses aufgeben. Die Reise von Haas ging aber weiter nach oben. 2007 schaffte er die Rückkehr in die Top 10. Doch Schulterprobleme zwangen den Deutschen immer wieder zu Turnierabsagen. Als Haas 2009 seinen nächsten spielerischen Frühling erlebte und den Einzug ins Wimbledon-Halbfinale schaffte, wurde er 2010 wieder aus der Bahn geworfen. Nach einer nötigen Operation an der Hüfte fiel Haas erneut für 15 Monate aus. Nach seinem Comeback kämpft der mittlerweile 34-Jährige um ein vernünftiges Karriereende und wird dabei immer wieder von kleineren Verletzungen gestoppt.

Beispiel Philipp Petzschner: Beim Wimbledonturnier 2010 spielte Petzschner wohl das Tennis seines Lebens. Den späteren Wimbledonsieger Rafael Nadal hatte der Bayreuther in der dritten Runde am Rande einer Niederlage. Mit Jürgen Melzer gewann er die Doppelkonkurrenz. Petzschner hatte sich im Einzel in der erweiterten Weltspitze etabliert. Einige Wochen später knickte er bei einem Bundesligaspiel in Österreich mit dem rechten Knöchel um und fiel zehn Wochen aus. Seitdem kämpft Petzschner im Einzel um den Anschluss. Immer wieder musste der Deutsche Turnierstarts absagen. Seit zwei Monaten wird Petzschner wegen einer Verletzung am Handgelenk ausgebremst.

Beispiel Alexander Waske: Der Hesse zog sich 2007 beim Davis-Cup-Halbfinale gegen Russland einen Muskelbündelriss im Ellbogen zu. Waske kämpfte im Doppel an der Seite von Petzschner gegen die Schmerzen an und führte Deutschland zum Doppelsieg. Die Verletzung beendete schließlich seine Einzelkarriere.

Beispiel Boris Becker: Eine unglückliche Szene in der dritten Runde beim Wimbledonturnier 1996 begrub die Hoffnungen auf den vierten Wimbledonsieg von Becker. Der Leimener musste sein Match gegen den Südafrikaner Neville Godwin aufgeben, nachdem er sich bei einem Return schwer am Handgelenk verletzt hatte. Becker war auf seine „alten Tage“ wieder in Hochform, gewann im gleichen Jahr die Australian Open und reiste mit dem Titelgewinn beim Vorbereitungsturnier in Queen's als einer der Topfavoriten nach Wimbledon an. Der Traum von Beckers viertem Wimbledonsieg zerplatzte aus heiterem Himmel. Stattdessen gewann Überraschungsmann Richard Krajicek auf dem heiligen Rasen.

Beispiel Steffi Graf: Die wohl größte Tennisspielerin aller Zeiten musste zwischen 1997 und 1998 ein Jahr pausieren, weil sie sich einer Operation an der verletzten Patellasehne unterziehen musste. Graf verlor nach insgesamt 377 Wochen die Führung in der Weltrangliste und schaffte es nicht mehr zurück zur Nummer eins. Die lange Verletzungspause kostete Graf wohl auch den Rekord mit den meisten Einzelsiegen bei Grand Slams. In der Endabrechnung fehlten der Deutschen zwei Grand-Slam-Titel, um mit Margaret Court (24 Einzeltitel) gleichzuziehen.

Es sieht wahrlich so aus, als ob die deutschen Spieler und Spielerinnen nicht gerade vom Glück geküsst sind. Natürlich ist es verwegen zu glauben, dass eine Sportlerkarriere völlig ohne Verletzungen abläuft. Rückschläge gibt es bei jedem Sportler in jeder Sportart. Es fällt jedoch auf, dass besonders die deutschen Spieler und Spielerinnen immer wieder von schwerwiegenden Verletzungen zurückgeworfen werden – und meistens dann, wenn sie auf dem Weg sind, einen großen Karriere-Höhepunkt zu erreichen. Was Andrea Petkovic Hoffnung machen sollte, ist die Entwicklung von Michael Stich nach seiner schweren Verletzung. Stich kam 1996 bärenstark zurück, feierte gleich bei seinem zweiten Start einen Turniersieg und erreichte bei den French Open sogar das Finale. Hoffen wir, dass „Petko“ ein ähnlich starkes Comeback feiern wird.

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Donnerstag
21.04.2016, 07:25 Uhr