Zverev: "Das bedeutet die Welt für mich"
Mischa Zverev steht bei den Australian Open sensationell im Viertelfinale. Der 29-jährige Deutsche besiegte die Nummer eins, Andy Murray, in vier Sätzen. Und das mit einem Rezept, das eigentlich schon seit vielen Jahren überholt ist.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
22.01.2017, 12:20 Uhr
Wo soll man bei einer der größten Geschichten anfangen, die das moderne Profitennis in den letzten Jahren und Jahrzehnten geschrieben hat? Es ist die wunderliche, lange Zeit schmerzliche und aktuell ziemlich unfassbare Geschichte des unbeugsamen Mischa Zverev, um die es hier geht.
Es ist die Geschichte eines Mannes, der in jungen Jahren fast an riesigem Erwartungsdruck gescheitert wäre, bevor er wegen bitterem und hartnäckigem Verletzungspech an Rücktritt dachte. 2009 brach er sich das Handgelenk, 2010 brach er sich zwei Rippen und erlitt einen Bandscheibenvorfall, 2013 riss er sich die Patellasehne an, und 2014 wurde er sogar am Handgelenk operiert. Doch Mischa Zverev, der ältere der beiden erstaunlichen Zverev-Brüder, kam immer wieder zurück und ist immer noch da, mittendrin im Tennisbetrieb - und wie.
"Das ist Tennis, was ich sehen will"
Als er am Sonntagabend in der Rod Laver Arena zu Melbourne die Rückhand eines gewissen Andy Murray seitlich ins Aus fliegen sah, nach drei Stunden und 33 Minuten, da hatte er mit dem besiegelten 7:5, 5:7, 6:2, 6:4-Achtelfinaltriumph gegen den Australian-Open-Titelfavoriten und Weltranglisten-Ersten auf seine älteren Tage noch einen bisher unvergleichlichen Coup geschafft. "Es ist ein Moment, den man ewig genießen möchte", sagte der unwahrscheinliche und ebenso hochverdiente Gewinner, der nun in der Runde der letzten Acht auf Roger Federer trifft.
Besser denn je in seiner wild bewegten, äußerst komplizierten Karriere, stahl der 29-Jährige auch Bruderherz "Sascha" die Schlagzeilen und die Show - der hatte tags zuvor bei der hauchdünnen Fünf-Satz-Niederlage gegen Matador Rafael Nadal ebenfalls für Furore gesorgt, das Happy End gegen den 14-maligen Grand-Slam-Champion indes verpasst.
Roundup, Tag 7: Sensation perfekt! Zverev haut Murray raus
Und doch: Die beiden Jungs von der Waterkant waren - im Kollektiv gedacht - die beiden herausragenden Darsteller der ersten Turnierwoche im heißen Melbourne, die Lieferanten von Spektakel und nun auch Sensation. "Was für eine Familie", sagte der langjährige Davis-Cup-Boss der USA, Patrick McEnroe. Und sein Bruder John, der ehemalige Superstar und Superflegel der Tennisplätze, ernannte Mischa, den Thronstürzer von Sir Murray, zu seinem "neuen Lieblingsspieler": "Das ist das Tennis, was ich sehen will. Intelligent, flexibel, mit Köpfchen."
Reminiszenz an eine goldene Ära
Und tatsächlich: Was Zverev der Ältere, da in einer grandiosen Demonstration von Spielintelligenz, Offensivwucht und kühler Nervenkraft in der Rod Laver Arena vom Schläger zauberte, war vor allem eine Reminiszenz an eine goldene stilistische Ära dieses Sports, eine Zeitreise in die 80er- und 90er-Jahre. Und es war bezeichnend, dass der Prototyp des Tennis der Jetztzeit, der Grundlinien-Beherrscher Andy Murray, keine Antworten auf die stoischen Netzangriffe und die taktische Schläue des sympathischen Deutschen fand - eines Spielers, der zeigte, warum er schon immer für sein feines Händchen und seinen instinktiven Touch gerühmt wurde. "Er hat teilweise unglaubliche Bälle geholt", sagte Murray.
"Dieses Match sollte sich jeder junge Spieler anschauen", merkte TV-Experte Boris Becker an, "einfach, um zu sehen, dass Aufschlag und Volley wichtige Elemente des Spiels sind." Sage und schreibe 116 Mal preschte der krasse Außenseiter ans Netz vor, gewann 55 Prozent dieser Attacken. Aber vor allem brachte er, der Weltranglisten-Fünfzigste, den Schotten aus seiner spielerischen und auch psychologischen Wohlfühlzone - so simpel wie effektiv war das Rezept, sich nicht auf ermüdende Ballwechsel an der Grundlinie einzulassen und selbst das Diktat des Tempos und des Rhythmus an sich zu reißen.
Zverev in der Zone
Doch es gehörte auch ein gerüttelt Maß an Courage und emotionaler Beherrschtheit dazu, die Partie gegen den Defensiv-Weltmeister und Ausdauerkünstler Murray nach Hause zu spielen, in der aufgeladenen, elektrisierten Centre-Court-Atmosphäre. "Ich war aufgeregt, aber nicht nervös", sagte Zverev hinterher, "ich habe alle negativen Gefühle ausgeschaltet." Die letzten Minuten, die letzten Spiele - da wirkte es, als sei Zverev in jener berühmten "Zone", über die Tennisspieler so gerne sprechen. Wie mit Tunnelblick versenkte sich der deutsche Comebacker da restlos in seine gewaltige Prüfung - und bestand sie mit summa cum laude, mit dem Höchstpreis, mit dem Rausschmiss des Frontmannes.
Und auch mit dem ersten Grand-Slam-Sieg eines Deutschen über eine Nummer eins seit dem Halbfinalsieg von Boris Becker 1995 in Wimbledon gegen Andre Agassi. "Das bedeutet die Welt für mich", gab Zverev zu Protokoll, dieser elegante Tennis-Ästhet, der in den Schicksalsmomenten seiner Laufbahn auch zum harten Kämpfertypen wurde. Wer so viel durchgemacht habe in seinem Sportlerleben, sagte Schwedens Altmeister Mats Wilander, "den kann so leicht nichts mehr aus der Bahn werfen."
"Es lohnt sich immer, an seine Chance zu glauben"
Auch nicht die mentale und körperliche Herausforderung gegen Murray, den Pokalkandidaten, der im üblichen Mediendossier für die Grand-Slam-Matches noch als "Pfeiler der Konstanz" gerühmt worden war. Seit dem vergangenen Sommer hatte er ja fast alles gewonnen, was es im Wanderzirkus zu gewinnen gibt: Er wurde Wimbledon-Champion, Olympiasieger, die Nummer eins und dann auch noch Weltmeister im heimischen London.
Fünfmal war er schon in Australian-Open-Finals gescheitert, er wollte unbedingt siegen, erst recht nach dem kapitalen Ausrutscher von Konkurrent Djokovic - und dann das: Der noch überraschendere eigene Knockout gegen den gewieften, trickreichen und mutigen Zverev, der 2016 noch in der Turnier-Qualifikation gescheitert war. Und der, nicht zu vergessen, im Jahr 2015 einmal bis auf Platz 1067 der Weltrangliste abgestürzt war.
"Es lohnt sich, immer an seine Chance zu glauben", sagte Zverev, der Sensationsdarsteller, und das war eben nicht nur auf den Tag, sondern auf sein ganzes Tennisleben bezogen. Dass auch sein jüngerer Bruder eine große Hilfe bei dieser emotionalen Rückkehrmission gespielt hatte, als Antreiber und Motivator, ließ der Ältere nicht unerwähnt: "Sascha war immer eine Inspiration für mich. Wir haben uns gegenseitig gepusht und stets nach vorne getrieben."
Melbourne 2017, diese Australian Open - das ist aber jetzt seine Bühne. Den US-Aufschlaggiganten John Isner nach 0:2-Satzrückstand noch ausgeschaltet, Andy Murray, den vermeintlich Unantastbaren, bezwungen, erstmals ins Viertelfinale eines Majors vorgestoßen, ein (virtuelles) Karriere-Hoch mit Platz 35 der Weltrangliste festgeschrieben - das alles hat Zverev schon erreicht. Aber die Bühne für gutes, altes Tennis mit Mischa, dem älteren der Zverevs, ist weiter bereitet. Für zeitlos schönes Tennis.
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