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Die „Wimbledon Library“: Ein Ort der Ruhe – und Demut

Im Rahmen des Wimbledon-Turniers hat tennisnet-Reporter Florian Goosmann die größte Tennis-Bibliothek der Welt besucht – und sieht seither einiges mit anderen Augen.

von Florian Goosmann aus Wimbledon
zuletzt bearbeitet: 13.07.2019, 21:30 Uhr

Robert McNicol
© All England Club / Wimbledon
Robert McNicol

Was bin ich doch für ein Idiot. Eingebildet. Arrogant. Überheblich. Es ist unfassbar.

Ja, meine Tennis-Bibliothek, sie war mein großer Stolz. Ich bezeichnete mich insgeheim gar als Sammler. Rund 60 bis 70 Werke habe ich dort in zwei Regalen aufgereiht – neue Bücher und alte, vergriffene wie Das endgültige Tennis-Handbuch von Wolfgang Brenneisen, Aufschlag von Thomas Muster oder die Bud Collins History of Tennis. Dazu zwei Regale gefüllt mit kompletten Jahrgängen des Tennis Magazins.

Meine Büchersammlung ist, wie ich dieser Tage herausgefunden habe, ein schlechter Witz.

Das wird mir bewusst, als ich in die "Kenneth Ritchie Wimbledon Library" gebeten werde. Robert McNicol heißt der Mann, der mir eine kleine Tour genehmigt durch die zwei Räume, die gefüllt sind mit Tennisbüchern und Magazinen aus aller Welt. Und mittendrin mit dem Foto des Begründers, Alan Little.

Von Alan Little hatte ich erst einen Tag zuvor etwas gehört. Little ist der Erfinder des Wimbledon Compendiums, einem mittlerweile 528 Seiten dicken Sammelsurium rund um Wimbledon. Wie viel Geld gab‘s 1968 fürs Viertelfinale im Mixed? Welche Beidhänder haben es bis mindestens ins Halbfinale gebracht in Wimbledon? Welche Kopfbedeckungen trugen die Wimbledonsieger? Das alles steht drin, neben viel Geschichtlichem. Ich verbringe seit zwei Wochen meine Abende mit diesem Buch, bis mir die Augen zufallen.

Robert McNicol
© Florian Goosmann

Robert McNicol neben dem Foto des Gründers der Wimbledon Library - Alan Little

Ein paar Tage später darf ich noch mal eintreten in die Räume, in die ich am liebsten einziehen würde, unten im Wimbledon Museum. Mit Robert habe ich diesmal einen Termin, ich will mehr wissen über diesen Ort des Tennis-Wissens.

Robert arbeitet seit 2016 in der Wimbledon Library, erzählt er mir. Er hat Geschichte studiert, danach bei der BBC als Bibliothekar gearbeitet, bis der All England Club die Stelle ausgeschrieben hatte. Er schwärmt von Alan Little, der 2017 verstorben ist. „Für eineinhalb Jahre war er mein Mentor, einer der besondersten Menschen, die ich je getroffen habe“, sagt Robert.

Major Wingfield und die Tennis-Idee

Mehr als 6.000 Tennisbücher aus aller Welt befinden sich aktuell in der Tennis-Bibliothek, rund 20.000 Einzelstücke insgesamt, inklusive Magazinen, Jahresbüchern und Zeitungsausschnitten, schätzt Robert. Man halte immer die Augen bei Auktionen offen, wolle vorhandene Lücken schließen. Robert erzählt auch eine seiner Lieblingsgeschichten von Alan Little. Vor Jahren sei ein polnischer Journalist erschienen und habe Little die 100. Ausgabe seiner Zeitschrift übergeben – eine Zeitschrift, von der dieser bis dahin nichts gehört hatte. Littles Reaktion: „Vielen herzlichen Dank! Wie sieht‘s denn mit den restlichen 99 Ausgaben aus?“

Unter den 6.000 Büchern in der Wimbledon Library befinden sich auch sieben Exemplare des vermutlich ersten Tennisbuchs über die Regeln des Spiels, von Major Wingfield, der 1874 mit der Idee des Tennis um die Ecke kam. Die erste Edition fehle leider, „es gibt drei Stück in der Welt, von denen man noch weiß“, erklärt Robert. Seine Empfehlung, wenn man etwas über die Erfindung des Spiels wissen wolle: The Birth of Lawn Tennis, ein wundervolles 3,7 Kilogramm schweres Buch über die Anfänge des Spiels, von dem nur 500 Exemplare gedruckt worden seien.

Offen sei die "Kenneth Ritchie Wimbledon Library" für jeden, erzählt Robert weiter, viele Journalisten kämen zum Recherchieren, aber auch reguläre Besucher könnten sich anmelden.

Die Wimbledon Library

Ein echter Tennis Historian!

Nach unserem Gespräch darf ich noch etwas bleiben und mich verweilen. Ich klappere die Reihen mit deutschen Tennisbüchern ab, mit den britischen und amerikanischen, blättere hier und da hinein und mache gedanklich Notizen für den Weihnachtsmann. Dann verwickelt mich ein älterer Herr in ein Gespräch. Wie sich herausstellt, ist er einer der beiden Autoren von The Birth of Lawn Tennis, Richard Hillway, ein „Tennis Historian“. Ob ich auch einer sei, fragt er – und ich erzähle ihm, dass ich vielleicht mal einer werde (wenn ich groß bin), aber aktuell noch weit davon entfernt sei.

Richard legt mir zwei weitere Bücher ans Herz, ein neues über Helen Wills, ein anderes über Bill Tilden, zwei Legenden des frühen 20. Jahrhunderts. Wir sprechen weiter, über die „Big 3“ bei den Herren und darüber, ob Serena Williams die Größte aller Zeiten sei. Hillway ist kritisch. Helen Wills habe an nur 22 Grand-Slam-Turnieren teilgenommen und davon 19 gewonnen, bei den restlichen drei habe sie erst im Finale verloren. 158 Spiele lang war sie unbesiegt, über einen Zeitraum von fünf Jahren. Das sind Zahlen!

Hillway verweist immer wieder auf die Geschichte, „es steht alles irgendwo vor uns“, sagt er und blickt über die Bibliothek. Dennoch sei vieles unbekannt. Wie die Erfindung des Tiebreaks. War dies wirklich alleine James von Alen? Hillway geht zielgerichtet auf eine Ausgabe des Magazins World Tennis aus dem Jahr 1958 zu, in der ein gewisser Frank Phelps ein ähnliches Prinzip vorbringt, ebenso die Abschaffung von Einstand und Vorteil. Eine Diskussion, die bis heute anhält. Sogar im ersten Regelbuch des Tennis, dem von Major Wingfield, wird eine Art Tiebreak erwähnt. „Es war alles schon mal da“, schmunzelt Hillway und verabschiedet sich.

Jetzt wird's ernst mit der persönlichen Sammlung 

Kurz darauf verlasse auch ich die Library. Dankbar und demütig. Am Montag, wenn‘s wieder nach Hause geht, werde ich wohl komplett auf dem Boden der Tatsachen landen, befürchte ich. Ich werde meine „Bibliothek“, die ich von nun in Anführungszeichen schreiben werde, mit völlig anderen Augen sehen. Aber ich werde etwas dagegen tun. Und ich weiß auch schon, was.

Am östlichen Ende der Arthur Road habe ich dieser Tage einen wunderbaren Tennisbuchladen entdeckt, die „Wimbledon Tennis Gallery“. Hier werde ich mich vor der Abreise reichlich eindecken, koste es, was es wolle. Was bedeutet schon schnöder Mammon!? Es geht hier doch um Tennis-Geschichte! Ich brauche mehr, das ist mir nach diesen Tagen klar.

Ich will ein Alan Little werden. Zumindest ein kleiner.

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von Florian Goosmann aus Wimbledon

Samstag
13.07.2019, 13:10 Uhr
zuletzt bearbeitet: 13.07.2019, 21:30 Uhr