Lendls Wimbledon-Fluch: "Gras ist für Kühe da"
Die Beziehung zwischen Ivan Lendl und Wimbledon war zu seiner aktiven Zeit an Tragik kaum zu überbieten. Es blieb trotz unzähliger Gelegenheiten das einzige Grand-Slam-Turnier, das der heutige Coach von Andy Murray nie gewonnen hat. SPOX wirft exakt 30 Jahre nach seiner letzten Finalniederlage einen Blick zurück auf Lendls Kampf mit dem Schicksal.
von Jannik Schneider
zuletzt bearbeitet:
29.06.2017, 11:00 Uhr
"Ich habe ein Tennismatch verloren. Niemand ist gestorben." Medienvertreter im Pressebereich des All England Tennis Club hingen gebannt an den Lippen von Boris Becker, der versuchte, einer der größten Sensationen der Turniergeschichte von Wimbledon zumindest etwas den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Der Titelverteidiger war beim Wimbledon-Turnier 1987 nur wenige Minuten zuvor sensationell an Peter Doohan in der zweiten Runde gescheitert. Das änderte das Turnier grundlegend. Vor allem für Ivan Lendl, den so oft so knapp in London Gescheiterten, der gehofft hatte, im Schatten von Becker und weiteren Weltklasse-Serve-and-Volley-Spielern den Turnierbaum empor zu klettern.
Doch wegducken war nun nicht mehr für den damals 27-Jährigen. Die Siegquoten Lendls fielen schlagartig ins Bodenlose. Die Experten waren sich einig: Beckers Ausscheiden war die Gelegenheit schlechthin für den besten Grundlinienspieler, die Nummer eins der Welt, endlich auch in Wimbledon zu triumphieren.
Doch stattdessen musste Lendl - wiederholt - eine ganz bittere Niederlage einstecken. Es sollte lange dauern, bis er mit diesem Turnier doch noch Frieden schließen konnte.
Lendl einst wie Djokovic
Lendl und Wimbledon, das passte schon allein von den Anlagen des gebürtigen Tschechen nicht, der später in die USA umsiedelte und die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm. Lendl war der geborene Grundlinienspieler, der vielleicht fitteste Spieler auf der Tour mit einem roboterartigen Balltreffpunkt.
Mit der heutigen Ära verglichen ähnelte sein Stil dem von Novak Djokovic. Doch Lendls Problem: "Ans Netz kommt er lediglich zum Handshake", drückte es einst Goran Ivanisevic treffend aus. Und der Rasen der 1980er Jahre war um einiges schneller als heute, die Zahl der Serve-and-Volley-Spieler, die das auszunutzen wussten, um einiges höher.
Dennoch gewann Lendl bei 14 Wimbledon-Teilnahmen 48 Einzel. Das sind nur drei Spiele weniger als etwa Björn Borg, der das Turnier fünf Mal gewann. Denn Lendl gelang es, seine Stärken auf dem ungeliebten Rasen zu adaptieren und zu optimieren. "Je mehr Zeit ich auf Rasen verbracht habe, desto natürlicher wurde es damals", erklärt er rückblickend im offiziellen Programmheft des Wimbledon-Turniers 2017.
Lendls Rasenallergie
Dabei ist ungeliebt keinesfalls eine Übertreibung für das, was er anfangs fühlte. War er doch noch 1982 wegen einer fadenscheinigen Ausrede, er leide an einer Rasenallergie, gar nicht erst in die englische Hauptstadt angereist.
Von Lendl ist ebenfalls der Satz überliefert: "Gras ist nur für Kühe da." Ihm hätte die Extra-Woche, die heutzutage üblich ist, geholfen, sich an den Belag zu gewöhnen, erklärte er nun. "Zu meiner Zeit hast du das French-Open-Finale bestritten und hattest 24 Stunden später deine erste Runde auf Rasen in Queens."
Trotz dieser Umstände standen am Ende seiner Karriere fünf Halbfinal- und zwei Finalteilnahmen zu Buche. Er sei in allererster Linie stolz darauf, was er dort erreicht habe, sagte er bereits 2015 in einem Interview kurz nach seiner ersten Amtszeit als Trainer von Andy Murray, mit dem er in Wimbledon erst bei den Olympischen Spielen 2012 und dann ein Jahr später auf Grand-Slam-Ebene irgendwie ja doch noch gewann.
Lendl musste nur noch zugreifen
1987 hatte er bereits zwei bittere Halbfinal-Niederlagen sowie die Finalpleite ein Jahr zuvor eben gegen Becker miterleben müssen. Doch der Deutsche war raus. Und er nun einmal der bereits vierfache Grand-Slam-Sieger, der am Ende des Jahres die Nummer eins der Welt war.
Der Unnahbare, nie lächelnde, der nun unbedingt zugreifen musste. Das wollten die Zuschauer, die Medien und wohl auch er selbst von sich sehen.
"Es war 1987 noch so früh im Turnier, ähnlich wie vergangenes Jahr, als Djokovic in Runde drei ausschied und alle erwarteten, Andy Murray gelinge nun der souveräne Durchmarsch - was auch eintrat. Aber das kannst du nie voraussetzen, stattdessen kannst du nur auf dich schauen", sagte der heute 57-Jährige, der im Verlaufe seiner Karriere drei Mal die French Open, drei Mal die US Open und zwei Mal die Australian Open gewann.
Lendls legendäre Spannungen mit Cash
Lendl griff zunächst auch zu und hatte dabei mehr Mühe als sein Schützling 29 Jahre später. Sein späterer Finalgegner Pat Cash gab in den ersten Runden nur einen Satz ab. Lendl setzte sich in kräftezehrenderen Matches gegen Christian Saceanu, Paolo Cane und Richey Reneberg durch.
Trotzdem hatte er noch genug Kraft, um im Halbfinale mit seiner besten Turnierleistung Stefan Edberg in vier Durchgängen zu bezwingen. Lendl bezeichnete den Sieg gar als beste Leistung, die er jemals in London erbracht habe.
"Er kam irgendwann nicht mehr so häufig ans Netz, ich schnappte mir den engen Tiebreak im dritten Satz und beendete das Ganze in vier Sätzen", erinnerte sich der Mann aus Ostrava einmal. Oft genug hatte ihn der Schwede im Halbfinale gestoppt, nun hatte er es gepackt.
"Ich kann mich gut in Ivan hineinversetzen, dass es dann doch nicht klappte", sagte Edberg in einem TV-Interview 2009: "Was für ihn Wimbledon war, war für mich Paris. Ich war sogar 1989 gegen Michael Chang näher dran. Das sind harte Momente."
Klaute Lendl Cashs Schuhe?
Tatsächlich gelang es Lendl nicht, das Finale gegen den Australier Cash ausgeglichen zu gestalten. Cash konnte mit seinen 22 Jahren sein ganzes Leistungsvermögen abrufen und wurde von Lendls Art regelrecht angestachelt.
Später schrieb er in seiner Biografie von einigen Provokationen. So soll Lendl aus Spaß ein Paar Trainingsschuhe von Cashs Sponsor entwendet und damit trainiert haben. Lendl dementierte das zwar, Spannungen bestanden aber ohne Zweifel.
Wie ein Häufchen Elend
Cash nutzte sie besser für sich. Sein Service funktionierte wahnsinnig gut an diesem Finaltag vor 30 Jahren. Knackpunkt war der Tiebreak im ersten Satz, den Cash nach einer 6:1-Führung mit einem Servicewinner gerade so mit 7:5 nach Hause brachte.
Anschließend strotzte der Youngster nur so vor Selbstvertrauen, gab im zweiten Satz keinen Punkt bei eigenem Service ab, kam im dritten Durchgang sogar von einem Break-Rückstand zurück und schnappte sich seinen größten Karriereerfolg mit 7:6, 6:2 und 7:5. Nach einem kurzen Handshake feierte Cash ausgelassen, Lendl saß wie ein Häufchen Elend minutenlang auf seiner Bank.
"Ich hätte wenig besser machen können"
Ein Jahr zuvor hatte Lendl unmittelbar nach der Finalniederlage gegen Becker beim On-Court-Interview kämpferisch betont, zurückkommen zu wollen: "Solche Dinge passieren mir nicht einfach so. Ich muss sehr hart dafür arbeiten. Nach meiner ersten Finalteilnahme bei den French Open musste ich drei Jahre warten, um dort zu gewinnen. Bei den US Open brauchte ich vier Versuche. Wenn ich hart arbeite und nicht erfolgreich bin, dann arbeite ich halt noch härter."
Und er war zurückgekehrt. Doch ein weiteres Mal sollte ihm der große Triumph auf dem Heiligen Rasen nicht gelingen, dabei verzichtete er 1990 und 1991 gar auf eine Teilnahme auf Sand, um seine Vorbereitungszeit auf Rasen zu verlängern - vergeblich.
"Cash hat 1987 ein fantastisches Finale gespielt. Ich habe mit meinem Trainer Tony Roche damals gesprochen. Ich hätte wenig besser machen können. Hinterher auf der Bank war ich sehr enttäuscht. Wollte ich Wimbledon gewinnen? Klar, ich wollte 25 Slams mehr gewinnen. Aber an dem Tag hat es einfach nicht sein sollen", sagte er nun vor Wimbledon 2017.
Murray löst den Fluch
Lendl gehört heute zur Riege der Supertrainer, die heutige Weltklassespieler betreuen. Er war einer der ersten. Als Andy Murray 2013 erstmals Wimbledon gewann, schwenkte eine BBC-Kamera auf seinen Coach.
Der Wortkarge, stoische Ivan Lendl, der mit den Tränen kämpfte und ähnlich wie Boris Becker bei der damaligen Pressekonferenz vergeblich versuchte, das Geschehene herunter zu spielen.
Nur, dass das nun ein ganz positiver Moment für Lendl war, nach all den bitteren Niederlagen im All England Club.