Kerbers schwierige Mission in Melbourne

Die Voraussetzungen für Angelique Kerber vor Beginn der Australian Open 2017 sind einmalig: Diesmal ist sie die Gejagte. Die der Meute aber ohne Weiteres wieder entkommen kann.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 13.01.2017, 10:54 Uhr

Die Trophäe in Händen - auch ein Jahr später

Als Angelique Kerber im letzten Herbst mit ein paar Journalisten bei der WM in Singapur zusammensaß, kam die Sprache auch auf Melbourne, auf den ersten Grand Slam-Titelgewinn der erstaunlichen Saison 2016. Kerber sagte, sie habe "so unglaublich viele Erinnerungen" an die Australian Open, an den Beginn der wunderbaren Reise, die sie später zu einem weiteren Grand Slam-Erfolg führte und hinauf auf den Gipfel der Weltrangliste trug. Der große Sieg im Finale gegen Serena Williams sei "selbstverständlich unvergessen, der größte Sieg überhaupt."

Aber Kerber lächelte auch, als sie an die lange Feiernacht nach dem Sensations-Triumph und an den Sprung in den Yarra-River am verkaterten Morgen danach dachte. Und dann war da natürlich noch ein ganz besonderer Moment, den Kerber sichtlich und hörbar emotional abrief, eingebrannt ins eigene Gedächtnis, gespeichert für alle Ewigkeit. Der Moment, der eigentlich alles veränderte für sie, die Sekunde Null. "Erstes Spiel, Matchball gegen mich. Im Spiel gegen Misaki Doi. Zweiter Satz, Tie-Break", sagte Kerber, "Ich stand irgendwie am Abgrund. Aber ich bin dann doch noch durchgekommen, war in der zweiten Runde. Und ich fühlte mich völlig frei, entspannt und locker. Da war kein Druck mehr da." Und kein Hindernis zu all den Siegen.

Alles auf Anfang

Man muss sich diesen Moment noch einmal vor Augen und in den Sinn führen, um zu verstehen, wie schmal der Grat zwischen Frust und Glanz in dieser Hochleistungs-Gesellschaft ist. Und wieviel hätte schiefgehen können für die ehrgeizige Kerber, bevor dann alles gut wurde - in Melbourne und auch an anderen Schauplätzen der Tennistour. Inzwischen sind die Uhren im Wanderzirkus allerdings längst wieder auf Anfang gestellt, nichts aus der letzten Saison ist vergessen oder ausgelöscht - und doch erscheint jedes Mal zu Serienbeginn der Erfolg vergänglich und auch schon wieder sehr fern.

Also, wie steht es nun, im Hier und Jetzt, um Kerber, die Überraschungs-Königin aus der Rod Laver-Arena, die Löwinnen-Bezwingerin, die Frau, die in Melbourne die beharrliche Ablösung von Serena Williams von Platz 1 im höchstpersönlichen Endspiel-Duell einleitete? Kerber, in Runde eins gegen die Ukrainerin Lesia Tsurenko gefordert, beantwortet diese Frage mit einem Satz, den man in Abwandlungen oft von ihr gehört hat, bei fast jeder größeren Mission auf dem Planeten Tennis: "Ich habe gelernt, mit Druck umzugehen", sagt die Nummer 1 der Welt, "ich weiß auch, wie man aus einer schwierigen Situation heraus ein wichtiges Turnier gewinnt - oder sogar einen Grand Slam."

Nichts ist vorhersehbar

Aber wie hilfreich wird das sein, wenn es nun losgeht mit einem Turnier, das in Tenniskreisen auch als die große Wundertüte gilt. Kein Wettbewerb liefert ja souverän so viele verrückte und abenteuerliche Plots wie die Australian Open, ganz einfach, weil sie zu einem völlig unsinnigen Zeitpunkt in der Saison datiert sind. Gerade mal zwei Wochen nach den allerersten Ballwechseln im Jahreskalender vergibt der Sport einen seiner wichtigsten Pokale - dabei suchen alle noch mühsam nach Orientierung, Form und Gewissheiten. Wen wundert da, dass in den ersten Runden der große Überraschungs-Alarm reihum gilt, Kerber selbst war ja vor zwölf Monaten fast eines der prominenten Opfer gewesen. Sie wird es nicht gerne zugeben, vielleicht auch mental verdrängen, aber sie wird wie alle ganz Großen besonders zittern vor den Auftaktpartien. Vor den sogenannten Außenseitern, die wirklich keinen Druck und keine Beklemmungen haben - und die sich liebend gerne mit einem Sieg über Kerber und Co. ins Rampenlicht stellen können. Manche einfachen Dinge ändern sich eben nie, auch nicht für die Nummer 1 namens Angelique Kerber.

Die Gejagte zu sein, nicht mehr die Jägerin, diese Ausgangslage hat Kerber mittlerweile akzeptiert und verinnerlicht. Auch deshalb, weil sich die Ziele nach dem wunderbaren Jahr 2016 verändert haben. Die Nummer 1 geworden zu sein und gewesen zu sein, war eine mächtige, lohnenswerte Anstrengung. Aber so traumhaft schön es auch wäre, weiter den Thron zu besetzen - wesentlicher sind jetzt Turniersiege, im Alltag des Tennisbetriebs und am besten bei weiteren Grand Slam-Events. Im Idealfall passt alles zusammen, die großen Siege, Platz 1. Aber gegen einen Wimbledon-Sieg oder einen Erfolg bei den French Open würde Kerber Platz 1 gewiß eintauschen. Mehr als Platz 1 geht eben nicht. Aber mehr Grand Slam-Siege schon, Siege für die Geschichtsbücher, für das Lebenszeugnis im Tennis.

Aber jetzt warten erst mal die Australian Open auf die Beste der letzten Saison, auf die Titelverteidigerin. Alles ist möglich, von der Wiederholung des 2016er Coups bis zur schnellen Heimreise. Das gehört, ganz allgemein zur eigenen Turnier-DNA in Melbourne, gilt aber im besonderen auch für den Fall Kerber. Denn für herausragende Erfolge braucht die Kielerin stets eine herausragende Intensität, jenen Turniermodus, der sich schlicht aus mutmachenden Siegen, aber oft aus kämpferischen Duellen heraus entwickelt. Kerber muss diese kniffligen, umstrittenen Partien erst einmal gewinnen, auf den ersten Turniermetern. In der Vorbereitung kam sie noch nicht richtig auf Touren, weder in Brisbane noch in Sydney. Das kann eine Hypothek für Melbourne sein, muss es aber nicht.

Eine neue Kerber?

Kerber gehört zu den Favoritinnen für das Turnier. Auch Serena Williams, die Kerber-Freundin Agnieszka Radwanska aus Polen und die schlagstarke Tschechin Karolina Pliskova, die Finalgegnerin Kerbers bei den US Open, gehören dazu. Sie sind inzwischen die üblichen Verdächtigen, wenn es um Grand Slam-Titel geht. Aber vielleicht gewinnt in Melbourne auch eine wie die Angelique Kerber des Vorjahres. Eine, die noch nichts von ihrem Glück ahnte, als es losging bei diesem launischen Grand Slam.

Hier die Auslosung für die Australian Open 2017: Damen, Damen-Qualifikation

Hier die aktuelle WTA-Weltrangliste

von Jörg Allmeroth

Freitag
13.01.2017, 10:54 Uhr