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Als B. Becker „Bambi“ Agassi erschoss

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 31.08.2016, 03:28 Uhr

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Zehn Jahre ist es heute her, alsAndre Agassibei den US Open sein letztes Turnier spielte. Es fühlt sich an wie ein anderes Leben. Und irgendwie war es das auch.

Der Letzte einer Spielergeneration

Ich weiß es noch wie heute. Ich hatte ein winziges Ferienzimmer in Trier gemietet, es war die zweite Woche meines Jura-Examens, meines zweiten Versuchs, nachdem ich beim ersten durchgerasselt war. Anders ausgedrückt: Es war keine der unbedeutendsten Wochen meines Lebens.

Auf der anderen Seite war es Andre Agassis Abschiedswoche. Agassi – der letzte Mohikaner einer Spielergeneration. Meiner Spielergeneration. Der Letzte aus der Zeit um meine Helden Stefan Edberg, Boris Becker, Patrick Rafter, Goran Ivanisevic oder Henri Leconte. Spieler, mit denen ich groß geworden war, deren Schläge ich als Zehn-, als Zwölf-, als Vierzehnjähriger versucht hatte zu imitierten. Die zu Schulzeiten schon für die ein oder andere schlaflose Nacht gesorgt hatten, weil sie weit weg, in den USA oder Australien, um Siege und Titel kämpften, während ich in Deutschland am folgenden Schultag die ferngeschauten Nächte büßte.

Agassi hatte sie alle überlebt und fand sich nun, Mitte der 2000er-Jahre, den neuen Wilden gegenüber. Typen namensRoger Federer,Lleyton Hewitt, Marat Safin oderRafael Nadal.

Eine Legende kämpft um den Abschied

Wenn der Held der eigenen Jugend abtritt, ist es zugleich ein Abschied einer Epoche des eigenen Lebens. Man wünscht sich ein rauschendes Fest, noch mal das ganz große Ding, einen Abgang in Würde. Und bitte keine kraftlosen Niederlagen gegen Spieler, die früher Katzenfutter gewesen wären. Keinen Abgang als Nummer 200 der Welt, keinen Abgang im Wissen, den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören dann doch verpasst zu haben.

Die beiden Stimmen in meinem Kopf machten es mir dennoch schwer: „Du musst schlafen, du hast morgen Prüfung!“ kämpfte gegen „Du kannst nicht Agassis letztes Turnier verpassen!“ Letztlich siegte die Vernunft – also die Stimme, die für Agassi brüllte. Was ist schon Straf- und Verwaltungsrecht, wenn auf der anderen Seite der Weltkugel – und in der Ferienwohnung nur einen Fernbedienungsknopfdruck entfernt – eine Tennislegende, die einem die schönste Beschäftigung des Lebens nahegelegt hat, um den letzten großen Sieg kämpft, und sei es um 3 Uhr nachts?

Agassis Match gegenAndrei Pavelwar eine Nervenkiste mit drei Durchgängen im Tiebreak und einem erlösenden 6:2 in Satz vier, der Krimi gegenMarcos Baghdatis, den Agassi nach einer 2:0-Satzführung beinahe noch aus der Hand gab, wurde zu einem Fünf-Satz-Klassiker, dem Agassi selbst drei Jahre später mehrere dramatische Seiten seiner Autobiografie widmete.

B. Becker, der Typ, der „Bambi“ erschoss

Agassis finale Vorstellung fand an einem Samstag statt, schlechtes Wetter in New York hatte das Match verzögert. Agassi selbst wollte für sein letztes Spiel jemanden, „den ich respektiere oder mag – oder jemanden, den ich nicht kenne“. Er bekam Alternative zwei:Benjamin Becker, Tour-Quereinsteiger und zu dieser Zeit die Nummer 112 im Ranking.

Becker siegte deutlich, gefühlt klarer als in vier Sätzen, die auf dem Papier als das letzte Spiel von Andre Kirk Agassi eingehen sollten. Und so sehr mich eine bittere Niederlage gegen Pavel oder Baghdatis mitgenommen hätte – das Match gegen Becker erlebte ich im Einklang mit der Tenniswelt. Man hatte es gespürt (und Agassi später auch bestätigt): Vom Baghdatis-Match gab es für ihn und seine 36 Jahre keine ausreichende Erholung mehr. Und auch man wenn eine Drittrundenniederlage einer Ex-Nummer-1 gegen eine Nummer 112 auf dem Papier als bitteren Abgang ausmachen könnte, war in diesem Fall das genaue Gegenteil der Fall: Agassi hatte mit seinen beiden Herzschlag-Siegen in Runde eins und zwei noch mal alle mitgerissen – der Tank war nun einfach leer. Und irgendwie hatte man es gespürt.

Benjamin Becker selbst verhielt in der Stunde seines größten Sieges perfekt. Er wusste um die Geschichte, die er geschrieben hatte – ebenso, dass er in ihr für immer die Nebenrolle einnehmen würde. Er wusste, dass Agassi angeschlagen war und ließ sich nicht zu unangebracht großen Siegesgesten hinreißen. Becker reagierte auf das Match, mit dem ihn die US-Fans immer verbinden werden und das heute noch regelmäßig über die Mattscheiben flimmert, wunderbar zurückhaltend. Nach dem wichtigsten Karrieresieg keine Selbstverständlichkeit, aber stilprägend für das Bild, das der mittlerweile 35-Jährige auch die folgenden zehn Jahre in die Öffentlichkeit transportieren sollte. Denn Beckers Aufgabe war undankbar – oder wie Andy Roddick (der Becker danach besiegte) es formulierte: „Ich wollte nicht derjenige sein, der Bambi erschießt.“

Eine Rede für die Ewigkeit

In Erinnerung an den 3. September 2006 bleibt allen Agassi-Fans vor allem die Abschiedsrede: Agassis Liebeserklärung an die US Open und seine Fans, denen er das größtmögliche Kompliment machte – indem er sie mit Fitnesscoach und Vaterersatz Gil Reyes verglich; Reyes, der derm jungen Andre Agassi seinerseits die Schultern zum Träumen hingehalten hatte und als einer der Personen gilt, der aus dem getriebenen, unsicheren und unglücklichen Rebellen der 80er- und 90er-Jahre den Elder Statesmen der 2000er geformt hat, der mit Steffi Graf schließlich seine große Liebe und den Sinn seines Lebens fand.

Andre Agassi hat im Laufe seiner Karriere neben großen Siegen vor allem das geschafft, was große Sportler neben Siegen ausmacht: Er hat die Menschen berührt, in jedweder Weise.

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Mittwoch
31.08.2016, 03:28 Uhr