"Ich wundere mich selbst, dass ich noch da bin"
20 Jahre nach ihrem Debüt an der Londoner Church Road spielt Venus Williams am Samstag erneut um die Wimbledon-Krone. Die 37-Jährige ist auf einer denkwürdigen Grand-Slam-Mission.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
14.07.2017, 13:30 Uhr
Von Jörg Allmeroth aus Wimbledon
Pete Sampras und Martina Hingis führten die Weltrangliste an, sie siegten auch in Wimbledon. Boris Becker verkündete plötzlich und unerwartet seinen (ersten) Rücktritt, Steffi Graf fehlte verletzt, Alexander Zverev war gerade drei Monate alt. Und wo einst der "Hinterhof des Henkers" stand, der gefürchtete Court Nummer 1 im All England Club, lief nun der Betrieb des neuen Internationalen Medienzentrums auf vollen Touren. Es war das Jahr 1997 an der Church Road, es war auch das Jahr, in dem zum ersten Mal eine gewisse Venus Ebony Starr Williams auf den Tennis-Grüns ihr Glück versuchte.
Aber die Premiere war noch ein Ausrutscher, das baumlange Mädchen mit den Glasperlen im Haar scheiterte in der ersten Runde trotz einer 6:4, 2:0-Führung an der Polin Magdalena Grzybowska. Daddy und Trainer Richard Williams allerdings verkündete den Reportern: "Meine Cinderellas werden hier eines Tages eine große Party feiern. Und niemand wird ihnen in die Quere kommen." Er schloss schon damals die jüngere seiner beiden Tennistöchter, Serena, mit in die guten Hoffnungen ein.
Und wie wahr: Was ist aus dieser Williams-Story geworden? 20 Jahre später ist Serena die erfolgreichste Spielerin des modernen Tennis geworden, dekoriert mit 23 Grand-Slam-Titeln. Und Venus, die Ältere, besiegt mit 37 Jahren wieder höchst erfolgreich ihre jüngeren und ganz jungen Gegnerinnen, sie besiegt auch Skeptiker und Zweifler. Und sie besiegt eine tückische Krankheit (Sjögren-Syndrom), die ihr schon einmal fast die Kraft und den Glauben nahm, noch weiter erfolgreich Tennis spielen zu können.
Evergreen
Zwölf Mal schon haben Serena und Venus die Wimbledon-Trophäe in die Höhe gestemmt, Serena sieben Mal, Venus fünf Mal, und die Chancen, dass ein dreizehnter Titel für die Familien-Dynastie hinzukommt, stehen außerordentlich gut.
Serena (35) ist zwar gerade aus bestem Grund verhindert, an den Ausscheidungsspielen im Londoner Südwesten teilzunehmen, sie ist im siebten Monat schwanger, erwartet ihr erstes Kind. Doch da ist ja noch Big Sister Venus, die erfahrenste Wimbledon-Athletin überhaupt, mehr als 100 Spiele hat sie schon bestritten in diesem grünen Tennis-Paradies.
Sie vertritt die Williams-Interessen mit äußerster Autorität, Konsequenz und Geradlinigkeit, an diesem Samstag kämpft sie gegen die Spanierin Garbine Muguruza um ihren sechsten Titel. "Ich wundere mich selbst, dass ich immer noch da bin", sagt die Kalifornierin, die sich als älteste Siegerin der langen Turniergeschichte in die Rekordchronik einschreiben kann. Sie ist, im besten Sinne, der Evergreen von Wimbledon. Venus Immergrün.
Sie lässt die nächsten Generationen alt aussehen mit ihrem zeitlosen Powertennis, mit Dynamik, Courage und dem Mumm für die großen Matches und Momente. Auf der Höhe ihrer Wimbledon-Kunst kann ihr auch niemand so recht nahekommen, dieser unverwüstlichen Venus Williams. "Nichts gegen Serena: Aber wenn ich mir ich die ideale Wimbledon-Athletin vorstellen müsste, dann wäre es Venus", sagt die US-Legende Chris Evert, "sie hat das natürliche Spiel für Gras, das Auge, die Geschmeidigkeit."
Glaube war weg
Williams' Wille war zwar stets da, der drängende Wunsch nach Wimbledon-Titeln, aber eben nicht die Gesundheit und Fitness. Als die Autoimmunkrankheit sie vor sieben Jahren überfiel, war an große Tennistitel zunächst nicht mehr zu denken, vier Jahre lang erreichte sie bei keinem Grand-Slam-Turnier mehr das Viertelfinale. Sie schien ihre Zukunft im Wanderzirkus hinter sich zu haben. "Ganz ehrlich: Ich habe auch nicht mehr jeden Tag geglaubt, dass ich noch einmal stark zurückkommen würde", sagt sie.
Doch dann das kleine, vielleicht sogar größere Venus-Wunder. Weit jenseits der Dreißig, kämpfte sie sich wieder in die engere Weltspitze vor. Sie hat ihre Krankheit nun "einigermaßen gut" im Griff, sagt Williams, und sie ist mittendrin im großen Spiel. Schwester Serena war von ihr zwar nicht zu bremsen Anfang des Jahres, im finalen Sister Act von Melbourne, aber jetzt steht sie in ihrem zweiten Grand-Slam-Endspiel der Saison.
In Wimbledon, dort wo sie vor einer kleinen Ewigkeit ihr nervöses Debüt gab. "Schrecklich aufgeregt" sei sie damals gewesen, erinnerte sich die 37-jährige, "arme junge Venus." Sie hat keine leichten Wimbledon-Tage hinter sich, was am wenigsten mit dem Sport selbst zu tun hatte. Sondern mit dem tödlichen Verkehrsunfall, in den sie Anfang Juni in Florida verwickelt war.
Ganz zu Beginn des Turniers gab sie eine tränenreiche Pressekonferenz, sprach darüber, wie schwer es sei, "das Ganze in Worte zu fassen." Später wurde bekannt, dass sie offenbar keine Schuld an dem tragischen Unfall trägt. Es ist ein sehr besonderes Turnier für Venus. Gewinnt sie das Endspiel, wird es auch ein Titelgewinn wie kein zweiter sein.