Eine neue Zeitrechnung?
Garbine Muguruza hat das, was man im Tennis ein "großes Spiel" nennt. Ihr zweiter Major-Titel könnte der Anfang einer großen Serie der Spanierin werden.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
15.07.2017, 17:48 Uhr
Von Jörg Allmeroth aus London
Es war nicht der Tag, an dem über dem Grand Slam-Terrain von Wimbledon noch einmal der Planet Venus aufschien. Es war nicht der Tag einer Renaissance alter Größe und Stärke, eher der Tag, der vielleicht eine andere Zeitrechnung einleitete. Wimbledon, das größte und bedeutendste aller Tennisturniere, hatte jedenfalls an diesem 15. Juli 2017 eine neue, eine couragierte und erfrischende Siegerin auf dem Thron: In ihrem zweiten Finale auf dem Heiligen Rasen an der Church Road eroberte sich Spaniens Garbine Muguruza mit einem schließlich frappierend souveränen 7:5, 6:0-Erfolg gegen die ehemalige Wimbledon-Herrscherin Venus Williams nun ihren ersten Titel.
Nach 77 Minuten eines Endspiels, das auf der Zielgeraden Einbahnstraßen-Tennis gegen die 37-jährige Amerikanerin bot, sank Muguruza ergriffen auf den Boden, brach in Tränen aus. "Es ist ein Traum, hier zu gewinnen. Einfach unbeschreiblich", sagte die 23-jährige, die sich der Größe der Herausforderung von der ersten bis zur letzten Minute gewachsen zeigte, "ich war schon ein bisschen nervös zum Start, aber sehr kontrolliert und gefaßt im Spiel dann." Für Muguruza, die schon länger als eine kommende Führungskraft des Frauentennis gilt, war es der zweite Major-Erfolg - vor 13 Monaten hatte sie in Paris den Titel gegen Serena, die jüngere der beiden Williams-Schwestern, gewonnen.
Premiere unter Dach
Serena, die Grand-Slam-Rekordsiegerin mit 23 Titeln, hatte in Wimbledon wegen ihrer Schwangerschaft gefehlt - Schwester Venus konnte nun die familiären Interessen der Tennis-Dynastie nicht erfolgreich wahren. "Ich gab mein Bestes, ich wollte, dass wieder eine Williams gewinnt. Aber Garbine hat zu stark gespielt. Sie war die bessere heute", sagte die Veteranin, die den letzten ihrer fünf Wimbledon-Titel 2008 geholt hatte. Erst zum zweiten Mal verlor eine der beiden Williams-Schwestern ein Finale gegen eine Spielerin, die nicht die eigene Schwester war - bisher hatte nur Maria Scharapowa 2004 gegen Serena triumphiert.
Das erste Frauenfinale in Wimbledons Historie unter geschlossenem Centre Court-Dach war bis zum 5:5 im Auftaktsatz eine ausgeglichene Angelegenheit. Doch nach dem 6:5-Break von Muguruza und dem kurze Zeit später besiegelten Gewinn des ersten Durchgangs verlor die Amerikanerin komplett das Gefühl für ihre Schläge, plötzlich fehlte jeglicher Rhythmus und auch der Glaube, dieses Finale noch wenden zu können. Meterweit segelten die Bälle der älteren Williams-Schwester ins Aus, im ganzen zweiten Satz gelangen ihr nur noch 12 Punkte. "Sie wirkt total entnervt, das ist ein richtiger Einbruch", sagte die ehemalige Weltranglisten-Erste Tracy Austin am Mikrofon der britischen BBC. So sehr sich die 37-jährige auch noch mühte und quälte, es gelang ihr bis zum bitteren Ende der Partie kein Spielgewinn mehr.
Große Zukunft, großes Spiel
Es gab auch eine beinahe kuriose Duplizität der Ereignisse an diesem denkwürdigen Finaltag, an dem möglicherweise auch die Dominanz der Williams-Schwestern in Wimbledon ein Ende erlebte: Auch die bisher einzige spanische Siegerin an der Church Road spielte 1994 gegen eine 37-jährige Legende dieses Sports, Conchita Martinez gewann damals gegen Martina Navratilova und leitete mehr oder weniger das Ende der Einzelkarriere der Wimbledon-Rekordsiegerin ein (neun Titel). Und nun erlebte Martinez als vorübergehende Trainerin, Mentorin und Beraterin mit, wie ihr Schützling Muguruza die 37-jährige Ausnahmespielerin Venus Williams bezwang - bei deren vermutlich letztem aussichtsreichen Anlauf, noch einmal im All England Club zu gewinnen. "Garbine ist eine erstaunliche Spielerin. Sie hat noch eine ganz große Zukunft vor sich", sagte Martinez.
Muguruza hat das, was man im Tennis auch das "große Spiel nennt": Mächtige Grundschläge, ein hartes Service, die Fähigkeit, aus jedem Winkel des Platzes Punkte zu erzielen. Oft scheiterte sie in der Vergangenheit an einer gewissen Wankelmütigkeit, an schwer erklärbaren Stimmungs- und Leistungsschwankungen. Doch bei diesen Internationalen Englischen Meisterschaften war sie von der ersten bis zur letzten Minute schlicht die beste, eindrucksvollste Spielerin, wie auf einer Mission unterwegs. "Man hatte immer das Gefühl, dass niemand sie von diesem Titelgewinn abbringen kann", sagte Navratilova, die an diesem Finaltag in der Royal Box als Ehrengast Platz genommen hatte.
Das Schlüsselmatch für die in Genf lebende Spanierin war das Achtelfinal-Duell mit Angelique Kerber, es war überhaupt das beste Spiel dieses Turniers. Muguruza bog die Partie nach 0:1-Satzdefizit noch mit aller gebotenen Leidenschaft und enormer Willenskraft um, sie wirkte dabei so unglaublich zäh und auch selbstbewußt, dass man ihr Großes zutrauen musste. Und Großes kam dann auch, das Größte überhaupt im Tennis: Der Wimbledon-Sieg, die Erfüllung aller Sehnsüchte.