Die Australian Open in Melbourne: "Das schönste und brutalste Turnier zugleich"

Die Australian Open sind die große Grand-Slam-Wundertüte zum Saisonstart.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 14.01.2019, 10:16 Uhr

Serena Williams
Serena Williams ist in Melbourne die Top-Favoritin

Viel heißer hätte es auch in der Hölle nicht sein können. An jenem Tag, an dem der stolze Titelverteidiger der Australian Open, ein gewisser Boris Becker, gleich in der ersten Runde gegen den Spanier Carlos Moya aus dem Turnier herausflog. 1997 spielte sich das kleine Drama ab, es ist schon eine kleine Ewigkeit her, aber für Becker ist es bis heute auch ein Beleg, was alles beim ersten Grand Slam der Saison passieren kann. „Melbourne, das ist eine absolute Wundertüte. Du musst auf alles, auf absolut alles gefasst sein“, sagt Becker.

Nach der stundenlangen Zermürbungsschlacht auf dem Centre Court – gemessen wurden Temperaturen in Bodennähe von über 60 Grad – sprach Becker übrigens damals den legendären Satz: „Mein Gehirn fühlte sich an wie Rührei.“

Roger Federer: "Es ist ein Balance-Akt"

Tennis kann ein aberwitziges Ding sein. Nicht nur wegen seiner verrückten Typen und Charaktere in diesem Zirkus der ausgeprägten Egos, sondern auch wegen seiner seltsamen Strukturen. Normalerweise käme ja niemand auf den Gedanken, gleich eins der absoluten Highlights seines Turnierkalenders auf den allerersten Metern der langen Jahresstrecke zu verpulvern, normaler Weise gäbe es einen sanften Countdown über ein paar Wochen, bevor es zum ersten „großen Schlag“ kommt.

Großer Schlag ist sinngemäß die Übersetzung für Grand Slam, also auch für die Australian Open, am anderen Ende der Welt. Aber das Tennis leistet sich seit ein paar Jahrzehnten nun den Luxus, die Saison mit einem komplizierten Paukenschlag zu eröffnen, mit einem Big Bang, der jeden der Hochleistungsathleten vor Zweifel und Rätsel stellt. „Die Frage ist jedes Mal: Wo stehe ich überhaupt? Wie gut war meine Saisonvorbereitung? Und wie schnell komme ich hier auf Touren“, sagt selbst Roger Federer, „es ist immer wieder ein Balanceakt, eine Gratwanderung.“

Federer hat gut reden, könnte man sagen und meinen. Schließlich hat der 37-jährige Maestro in den letzten beiden Jahren Unglaubliches vollbracht, ganz nach dem Motto: Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern auch nicht länger. 2017 holte er sich nach einer halbjährigen Verletzungspause auf Anhieb den Titel in Melbourne, es war ein Comeback, über das Federer bis heute selbst der erstaunteste Mensch auf dem Planeten ist.

„Es bleibt der emotionalste, ungewöhnlichste Sieg von allen“, so Federer, der 2018 den 2017er-Überraschungstitel überraschend verteidigte. „Damit hätte ich nie gerechnet. Gerade weil Melbourne so schwierig ist zum Saisonbeginn.“

Verletzungsprobleme schon in Australien

Federers Coup hat allerdings auch eine ganz bestimmte Deutung zugelassen: Erholte Spieler, ob nun nach einer Verletzungspause oder auch nach einer selbstverordneten Pause, haben bei der Prüfung „Down under“ mehr denn je bessere Chancen als all jene überbeanspruchten Profis, die noch bis in den November hinein leidenschaftlich um Spiele, Sätze und Siege gekämpft haben.

„Das gilt um so mehr“, sagt Amerikas Ex-Star John McEnroe, „seit das Herrentennis immer physischer und wettbewerbsstärker geworden ist – und die Saison immer länger.“ Wobei, das darf man hinzufügen: Sie wird noch ein Stückchen länger, wenn erst das Davis Cup-Finalturnier seinen Lauf nimmt, ab diesem Jahr, es wird noch nach dem ATP-Finale in London gespielt.

Es ist kein Wunder, dass vor dem Eröffnungs-Grand Slam immer öfter schon über Verletzungsmiseren und Blessuren mehr oder weniger prominenter Akteure gesprochen wird. Andy Murray hat ja nun sogar ganz die Segel gestrichen, auch Rafael Nadal laborierte zuletzt wieder mit einigen Wehwehchen herum. Bei den Frauen kommt Maria Sharapova körperlich nicht mehr richtig in Schwung, auch ihre besten Tage könnten schon vorbei sein.

Das Melbourne-Motto: "Vier Jahreszeiten an einem Tag"

Melbourne bleibt das gute Pflaster für Außenseiter, die schnell mal Spitzenreiter stürzen können. Denn nirgends kann die erste wirkliche Standortbestimmung so rapide im Knockout enden, auch weil äußere Faktoren das Klima der Unsicherheit verstärken. Schließlich ist die europäischste aller australischen Großstädte für unwägbares Wetter bekannt, für das, was die Melbournians selbst gern so umschreiben: „Vier Jahreszeiten an einem Tag.“

Eben noch brütende Hitze, dann schon empfindliche, herbstliche Kühle, alles ist möglich – und es macht die ohnehin schon schwierigen Angelegenheiten auf den blauen Hartplätzen noch ein Stückchen anspruchsvoller. „Ständig schwirren dir dir tausend Gedanken durch den Kopf“, hat Andre Agassi das einmal beschrieben, „Melbourne war das schönste und brutalste Turnier zugleich für mich.“ Er lernte sie aber noch spät lieben, die Australian Open, in seinen Dreißigern, als Fitness-Papst der Szene und Seriengewinner.

Und wer gewinnt in diesem Jahr? Noch einmal Federer? Oder Djokovic, der Allesabräumer der letzten Monate der Vorsaison? Einer der jungen Wilden? Oder einer, der jetzt noch überhaupt nichts von seinem Glück ahnt? „Ganz allgemein wird es ein Jahr, in dem extrem hart um jeden Titel gefightet wird“, sagt Günter Bresnik, der Erfolgscoach von Österreichs Ass Dominic Thiem, „allein um die Top Ten-Plätze werden 20 bis 25 Leute ringen.“

Und bei den Frauen? Sind Angelique Kerber und Julia Görges vorne mit dabei? Holt Serena Williams den lang erhofften Rekordtitel Nummer 24? „Wie im letzten Jahr gilt: Alles ist möglich. Und nichts ist unmöglich“, sagt Expertin Barbara Rittner, „Frauentennis und Prognosen – man kann´s fast vergessen.“

von Jörg Allmeroth

Sonntag
13.01.2019, 17:05 Uhr
zuletzt bearbeitet: 14.01.2019, 10:16 Uhr