Wenn ein Weltstar das Racket wechselt
Im zweiten Anlauf hat sich der „Maestro“ mit seinem neuen Arbeitsgerät scheinbar gut zurechtgefunden.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
18.01.2014, 16:13 Uhr
Boris Becker hat seinen ständigen Tennispartner einmal „seine verlängerte Hand" genannt. Und Andre Agassi bekannte auf der Höhe seiner Centre-Court-Kunst, sein Arbeitsgerät sei im Leben als Profi das, was seine Frau im Privatleben sei: „das absolut Wichtigste." Und tatsächlich: Nichts mehr als ein Schläger, ob ehedem aus Holz oder heutzutage aus Kunststoff-Materialien, beeinflusst das Wohl und Wehe der weltbesten Spieler so ein- und nachdrücklich - mal abgesehen von der banalen Wahrheit, dass ein Racket nur so gut oder schlecht sein kann wie der, der es benutzt.
Wahrscheinlich hatte es auch mit dieser gravierenden, elementaren Bedeutung eines Tennisschlägers zu tun, dass Roger Federers verwunderliche Sommertour des Jahres 2013 über europäische Sandplätze eine so überragende Aufmerksamkeit erfuhr. Denn in der Krisenlage nach seinem jähen Wimbledon-Aus in der zweiten Runde gegen den Ukrainer Stakhovsky zückte Federer ein wenig panikartig auch neues Handwerkszeug aus dem Ärmel, einen Prototypen seines langjährigen Ausrüsters Wilson, den er zuvor schon bei Trainingseinheiten in Zürich ausprobiert hatte. Der Versuch ging allerdings komplett daneben, vielleicht nicht einmal des Rackets, sondern Federers malader Gesamtverfassung wegen: Rückenschmerzen plagten den Maestro so hartnäckig, dass er sich mehr schlecht als recht durch die Auftritte in Hamburg und Gstaad quälte und anschließend die Testphase mit dem neuen Schläger abbrach.
„Ich denke beim Spielen gar nicht mehr darüber nach"
Ein halbes Jahr später wirkt Federers Welt wieder einmal verwandelt in dieser späten Phase seiner Karriere: Der 32-jährige Familienvater, der 2014 gemeinsam mit Frau Mirka noch einmal Nachwuchs erwartet, hat sich aus den sportlichen Beschwernissen herausgespielt, was sowohl auf den letzten Metern der alten wie den ersten Metern der neuen Saison signifikant deutlich wurde. Und mit dem aufgetankten Ego und handfesten guten Resultaten verläuft jetzt eben auch eine neue Phase der komplizierten, äußerst sensiblen Schlägerumstellung weitaus produktiver für den Ästheten am Ball. So wenig Mühe bereitet der Wechsel gerade bei den Australian Open, dass Federer guten Gewissens die für sich wohl maximal erfreuliche Aussage treffen kann: „Ich denke beim Spielen gar nicht mehr darüber nach." Also ganz anders als vor rund sechs Monaten, als er, wie er sich erinnert, „ständige Selbstzweifel" mit sich herumführte und der Schlägerwechsel „nicht viel einbringen konnte, weil ich mit angezogener Handbremse spielte."
Federers Ergebnisse der ersten Turnierwoche und sein geräuschloser Einzug ins 13. Achtelfinale hintereinander, den er am Samstag mit einem ungefährdeten 6:2,-6:2,-6:3-Sieg über den Russen Teymuraz Gabashvili sicherstellte, sprechen eine klare Sprache. Und sie illustrieren auch, dass dieser zweite Anlauf mit einem neuen Racket zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle kommt. Denn der größere Schläger mit einer vergrößerten Schlägerfläche von 632 Quadratzentimetern ermöglicht dem Maestro ganz neue Dimensionen dauerhafter Power - aber auch der Präzision, wenn erst einmal das Feintuning stimmt. Denn auch der Sweetspot, jenes Schlägerterrain, von dem der Ball mit sattem Sound optimal genau und optimal beschleunigt ins gegnerische Feld fliegt, ist nun erweitert bei Federers frischer Geheimwaffe. „Beim Aufschlag komme ich jetzt regelmäßig auf Geschwindigkeiten um 200 Kilometer. Das war vorher eher nur in Ausnahmefällen möglich", sagt Federer, „es ist aber eine große Erleichterung für mich." Federers Ambition, künftig aggressiver und offensiver zu spielen, wird jedenfalls von seinem Arbeitsgerät voll unterstützt - wobei der Schläger noch immer ein nicht 100-prozentig ausgereiftes Testobjekt ist, bei dem Federer noch immer Details und Nuancen verbessert. Erst für den Frühling wird damit gerechnet, dass Wilson das neue Zauberspielzeug des Tennisstars zur Serienproduktion freigibt. „Das ist kein Wunder", sagt der US-Amerikaner John McEnroe dazu, einst die Nummer 1 der Weltrangliste, „so ein Schlägerwechsel ist vergleichbar mit einem neuen Instrument, das ein Spitzenmusiker erhält. Da feilt man auch solange akribisch, bis der ideale Ton da ist."
Besser auf Nummer sicher mit dem Handgepäck
Federers halbes Dutzend neuer Schläger sind allesamt hochwertige Einzelstücke - nicht für die Öffentlichkeit, sondern nur für den Privatverbrauch des erfolgreichsten Grand-Slam-Spielers aller Zeiten bestimmt. Deshalb transportierte Federers Geschäftspartner und Manager Tony Godsick die wertvolle Fracht auch hochpersönlich aus den USA nach Melbourne - ganz auf Nummer sicher im Handgepäck und nicht etwa mit Fedex-Lieferung. Nächster Einsatz für die Gerätschaft ist nun das Federer-Achtelfinale gegen den Franzosen Jo-Wilfried Tsonga am Montag. Neunmal hat Federer das Duell mit dem Ali-Verschnitt gewonnen, vier Mal verloren. Auch vor einem Jahr traf man sich hier in Melbourne zum Schlagabtausch, Federer siegte in fünf hartumkämpften Sätzen. Und mit alten Handwerksutensilien.