US Open: Alexander Zverev - abgeklärt in der neuen, kalten Grand-Slam-Welt
Alexander Zverev steht zum zweiten Mal in diesem Jahr im Halbfinale eines Grand-Slam-Turniers. Gegen Pablo Carreno Busta ist Zverev am Freitag Favorit auf den Einzug in das Endspiel der US Open 2020.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
09.09.2020, 13:50 Uhr
Es ist eine kalte Grand-Slam-Welt, in der sich der große Wanderzirkus des Tennis gerade in New York wiederfindet. Aber ausgerechnet in diesem komplett anderen Universum, in der Stille, in der Einsamkeit, in der nüchternen Geschäftsmäßigkeit der US Open 2020, hat Alexander Zverev eine neue innere Balance entdeckt – ein mentales Gleichgewicht, das ihn nun auch bis ins erste Halbfinale seiner Karriere im Big Apple getragen hat. „Irgendwie prallt alles an mir ab“, sagt der 23-jährige Hamburger, dessen letzter Sieg, das 1:6, 7:6 (5), 7:6 (1), 6:3 im Viertelfinale gegen den Kroaten Borna Coric, symptomatisch war für die Ausgeglichenheit in schwierigen Zeiten. Zverev steckte sogar einen 1:6, 2:4-Rückstand wie ein geborener Stoiker weg und drehte die verloren geglaubte Partie im Arthur-Ashe-Stadion noch um. Jetzt trifft er in der Runde der letzten Vier auf Überraschungsmann Pablo Carreno Busta, der am Sonntag im Achtelfinale vom Disqualifikations-Skandal um Novak Djokovic profitiert und danach den jungen Kanadier Denis Shapovalov in fünf umkämpften Sätzen geschlagen hatte. „Hungrig sind alle auf diesen Sieg“, sagt Zverev, der erste deutsche Halbfinalist seit Boris Becker 1995. „Das Schwerste kommt erst noch.“
Seltsame Grand-Slam-Momente sind es, die man gerade im Billie Jean King Tennis Center erlebt. Es fehlen die großen Emotionen, die aufwühlenden Centre-Court-Szenen, die wilden Gefühlausbrüche der speziellen New Yorker Fans. Bei diesen US Open spielt sich keiner der Stars und Superstars in einen Rausch, es gilt vielmehr, diese besondere Atmosphäre, die Sterilität des ganzen Schauplatzes zu meistern. Und ausgerechnet dem bisher eher komplizierten Zverev gelingt es erstaunlich gut, sich in der fremdartigen Umwelt selbst zu kontrollieren, trotz aller Probleme sehr abgeklärt das richtige Maß und die Mitte zu finden. Zverev wirkt wie einer, der sich nach der langen Zwangspause und einem massiven Trainingspensum fest vertraut und beinahe in sich ruht. Der selbst dann nicht ernsthaft zweifelt, wenn es einmal brenzlig wird für ihn. „Ich bin ziemlich gelassen. Ich weiß, dass ich ein gutes Fundament habe“, sagt er.
Becker - "Zverev behält stets die Kontrolle"
Der Deutsche kommt wie ein Grand Slam-Angestellter alle paar Tage an seinen Arbeitsplatz und erledigt den Job. Es gibt kein Jammern und Klagen, es gibt keine zerbrochenen Schläger, es gibt keine Verzweiflung, aber auch keine Euphorie. „Am meisten imponiert mir, wie Sascha stets die Kontrolle behält. Die Kontrolle über sich selbst“, sagt Becker, der deutsche Herrentennis-Boss. Am Dienstagabend war Becker zwischendrin „sprachlos“, weil Zverev einen ziemlichen Rumpelstart mit Ach-und-Krach-Tennis hingelegt hatte. Später aber zog er den Hut vor seinem Schützling: „Du gewinnst solche Turniere nicht mit Schönheitspreisen. Sondern mit Spielen wie diesem hier.“
Zverevs Tennisjahr 2020 bot einerseits große Momente, nach den Australian Open zu Saisonbeginn ist er nun in New York schon wieder im Elitegrüppchen der letzten Vier dabei. Andererseits gehörte er auch zu denjenigen, die in der Corona-Krise für manch rabenschwarze Schlagzeile sorgten, als leichtsinniger Mitwirkender bei der Adria-Tour. Und mit dem gebrochenen Quarantäneversprechen danach, in der Wahlheimat Monte Carlo. Irgendwann in den Irrungen und Wirrungen verschwand Zverev allerdings von der Bildfläche und machte fortan vor allem eins: Sich an die Spielregeln zu halten, sich einfach einzuordnen in das Grüppchen der vernünftigen Kollegen. Die Pointe der ganzen Geschichte: Zverev, der Gast von Djokovics umstrittener Schaukampfserie, könnte jetzt vom Absturz des Nummer eins-Mannes profitieren. Ihm, dem 17-maligen Grand-Slam-Champion, hätte er im Normalfall am Freitag gegenüber gestanden. Doch jetzt wird Zverev auf Carren -Busta blicken, den spanischen Veteranen, der ihm als letzter Rivale den Sprung ins Finale verwehren kann. „Es ist natürlich eine riesige Chance“, sagt Zverev, „und ich will sie nutzen. Unbedingt.“
Starker Einfluss von Coach Ferrer
Zverev gehörte in den ersten Jahren seiner noch immer jungen Karriere zu den Stimmungsspielern der Branche. Die Konsequenz war naheliegend: Spielte er gut, dann gewann er meistens auch. Spielte er schlecht, verlor er immer, gefühlt zu 100 Prozent. Es hatte dann auch immer mit seinen Emotionen zu tun, seiner schwierigen Psyche, seinem Jähzorn, seinem Anspruchsdenken. In vielen Spielen machte er so das Mögliche unmöglich. Und nicht etwa umgekehrt. Zverev ging alles einfach nicht schnell genug voran, es konnte ihm unschwer verborgen bleiben, wie alle Welt von seinem gewaltigen Potenzial sprach. Und wie er, in seiner eigenen Wahrnehmung, eher den Erwartungen hinterher hinkte. „Ich glaube, mir hat in den letzten Jahren manchmal die Geduld gefehlt. Dabei ist das alles eher ein Marathon – und kein Sprint.“
Den großen Zielen ist er nun doch näher und näher gekommen. Noch fehlt der magische Durchbruch, der erste Major-Titel. Aber zuletzt hat ein ziemlich kluger Schachzug imponiert. Und die Hoffnung befördert, dass Zverev die deutsche Grand Slam-Dürre schon bald beenden kann. In der Corona-Pause engagierte der 23-jährige den früheren spanischen Weltklassemann und Top Ten-Spieler David Ferrer als neuen Coach. Ein ungleiches Pärchen, auf den ersten Blick. Aber Ferrer steht für genau jene Qualitäten, die Zverev bisher fehlten. Die bedingungslose Immer-Weiter-Mentalität, die Unverdrossenheit in allen Tennis-Lebenslagen, die Attitüde, niemals, absolut niemals in irgendeinem Match aufzugeben. Ferrer ist nicht dabei in New York, Zverev ist quasi als Alleinkämpfer unterwegs, auch wenn er täglich lange mit dem Matador vergangener Tage telefoniert. Ein Stück seines neuen Trainers steckt plötzlich auch schon im neuen Zverev.