Die olympische Zweckgemeinschaft
1992 gewannen die beiden deutschen Rivalen Boris Becker und Michael Stich die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Barcelona.
von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet:
05.08.2017, 13:12 Uhr
Von Christian Albrecht Barschel
Die Teilnahme an den Olympischen Spielen ist für jeden Sportler der größte Traum. Bei den Tennisspielern sieht die Sache allerdings anders aus. Der Gewinn eines Grand-Slam-Turniers besitzt einen viel größeren Stellenwert als eine olympische Medaille. Trotzdem sollte olympisches Edelmetall in der Sammlung eines jeden Tennisprofis nicht fehlen, wenn man seine Karriere als komplett bezeichnen will. tennisnet.com blickt zurück auf die Olympischen Spiele 1992 in Barcelona, als Boris Becker und Michael Stich als große Rivalen eine Zweckgemeinschaft bildeten und die Goldmedaille gewannen.
Als es darum ging, wer als deutsches Doppel bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona antreten sollte, fiel die Wahl auf die beiden deutschen Vorzeigespieler Becker und Stich. Die Sache hatte nur einen großen Haken. Becker und Stich waren sich ganz und gar nicht grün und sprachen nur das Nötigste miteinander. Durch seinen Wimbledonsieg 1991 im deutschen Finale gegen Becker war Stich in das Hoheitsgebiet seines Landsmannes eingedrungen.
Pilic: "Ich wusste, sie wären perfekte Doppelpartner"
Die beiden Deutschen waren fortan Rivalen und trugen ihre Streitereien vor allem über die Medien aus. Dass es überhaupt zu dieser Doppelkombination in Barcelona kam, war vor allem der Verdienst vom damaligen Davis-Cup-Kapitän Niki Pilic. "Beide passten gut zusammen, obwohl sie unterschiedliche Typen waren. Ich wusste, sie wären perfekte Doppelpartner. Da war meine Rolle eine besonders große. Die beiden haben zu der Zeit kein Wort miteinander gesprochen. Es bedurfte sehr viel diplomatischen Geschicks. Beide waren Weltklasse-Spieler, hochmotiviert, - aber ich musste sie zusammenbringen", erklärte Pilic rückblickend.
Becker und Stich hatten vor Bekanntgabe des deutschen Olympia-Doppels nur einmal ein gemeinsames Doppel gebildet. 1989 bei einem Turnier in Frankfurt, als Stich noch ein relativ unbekannter Spieler war. Der Erfolg war mäßig, das Duo verlor im zweiten Spiel. Auch im Davis Cup kam es bis zum Jahr 1992 nie zu einem Doppel Becker/Stich. Die Tatsache, dass das olympische Tennisturnier in Barcelona auf Sand ausgetragen wurde, erschwerte die Goldmission der beiden, denn Sand war nicht der beste Belag der beiden Deutschen.
Guter Start, schlechte Generalprobe
Um etwas Spielpraxis zu sammeln, traten Becker und Stich drei Monate vor Olympia-Start beim Sandplatzturnier in Monte Carlo an - als Endergebnis stand der Turniersieg zu Buche. Die ungewöhnliche Kombination schien also bestens zu funktionieren. Die Generalprobe beim Turnier in Stuttgart ging allerdings in die Hose. Becker/Stich verabschiedeten sich gleich in der ersten Runde. Das Ergebnis war überraschend, da Stich mit der Empfehlung des Doppeltitels in Wimbledon an der Seite von John McEnroe angereist war.
Nach dem frühen Ausscheiden im Einzel bei Olympia konnten sich Becker (Aus im Achtelfinale gegen Fabrice Santoro) und Stich (Aus in der zweiten Runde gegen Charly Steeb) voll und ganz auf das Doppel konzentrieren. Die beiden Deutschen gingen als das an sechs gesetzte Duo in das Turnier. Und die Auslosung hatte es zunächst gut gemeint mit den beiden Deutschen. Kampflos ging es ins Achtelfinale, weil das marokkanische Doppel Karim Alami/Younes El Aynaoui zurückzog. Es folgte ein klarer Sieg gegen die unbekannten Griechen Tasos Bavelas/Constantinos Efremoglou. Becker und Stich schienen sich in Barcelona anzunähern. "Es hat nie Differenzen gegeben. Man hat sich nur nicht richtig erkannt", wird Becker während der Olympischen Spiele zitiert. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.
Der richtige Groove bringt Becker/Stich ins Finale
Jahre später gestand Becker: "Zwischen den Ballwechseln haben wir eigentlich gar nicht miteinander gesprochen, denn wir mochten uns nicht wirklich. Wir waren ja während des Jahres Rivalen und hatten sehr unterschiedliche Charaktere. Außerdem mochte seine Freundin meine Freundin nicht, daher war das ein unmögliches Szenario. Also haben wir einen Pakt geschlossen: 'Hey, wir müssen uns nicht mögen, aber wir sind Profis. Wir treffen uns eine halbe Stunde vor dem Match, wärmen uns etwas auf und geben dann unser Bestes - mit deiner Technik und meinem Stil haben wir eine Chance!' Nachdem wir dann einige Runden gewonnen hatten, stellte sich dieser Groove ein und wir fühlten uns richtig als ein Teil der Olympischen Spiele."
Im Viertelfinale wartete auf Becker/Stich dann der große Härtetest gegen die Lokalmatadoren und zweifachen Grand-Slam-Sieger Sergio Casal/Emilio Sanchez aus Spanien. Die beiden Deutschen bewiesen Nervenstärke und gewannen vor 6000 fanatischen Zuschauern den Fünfsatzkrimi kurz vor Mitternacht mit 6:3, 4:6, 7:6 (9), 5:7, 6:3. Nicht einmal 24 Stunden später rangen beide im Halbfinale die Argentinier Javier Frana/Christian Miniussi mit 7:6 (3), 6:2, 6:7 (4), 2:6, 6:4 nieder. Becker/Stich waren im olympischen Endspiel und hatten eine Medaille sicher - es fehlte nur noch die Farbe.
Pilic pendelt zwischen den Zimmern
Großen Anteil am Endspieleinzug hatte auch Pilic, der es schaffte, dass das zerstrittene Duo auf dem Platz alles gab. "Das hat mich Jahre meines Lebens gekostet. Gesprochen haben beide nicht miteinander. Das musste ich erledigen. Ich bin zwischen den Zimmern hin- und hergependelt und musste viel lügen", äußerte sich Pilic später. Am 5. August 1992 wollten Becker und Stich dann deutsche Sportgeschichte schreiben. Im Endspiel warteten die an vier gesetzten Südafrikaner Wayne Ferreira/Piet Norval, die durch den Finaleinzug die erste südafrikanische Olympiamedaille seit 1960 sicher hatten.
Es entwickelte sich von Beginn an ein munteres Spiel an diesem heißen Nachmittag im Brutofen von Vall d'Hebron in Barcelona. Die Deutschen wehrten bei 5:6 einen Satzball ab und sicherten sich mit etwas Glück im Tiebreak den ersten Satz. Im zweiten Satz ereigneten sich herausragende Ballwechsel wie am Fließband, meist mit dem besseren Ende für die Südafrikaner. Ferreira/Norval ließen allerdings ihre vielen Chancen liegen und brachten die Deutschen wieder zurück ins Spiel. Die Tendenz ging klar in Richtung Becker/Stich, die nun auch die hochklassigen Ballwechsel für sich entschieden. Doch auch die Deutschen ließen den nötigen Killerinstinkt vermissen, so dass Ferreira/Norval nach einem 6:4 den Satzausgleich schafften.
Becker: "Mein Verhältnis zu Olympia ist goldig"
Im dritten Satz waren Becker/Stich das klar bessere Duo, doch das Break wollte den beiden einfach nicht gelingen. Nachdem erneut eine große Anzahl an Breakchancen nicht genutzt wurde, platzte Becker der Kragen. "Leck mich am Arsch" schrie Becker seinen Frust heraus. Ohne Aufschlagverlust ging es ein zweites Mal an diesem Tag in den Tiebreak. Dort leistete sich Norval einen Doppelfehler zum entscheidenden Minibreak. Die Deutschen gewannen den Tiebreak mit 7:5 und waren nur noch einen Satzgewinn vom Olympiasieg entfernt. Becker/Stich waren nun nicht mehr zu bremsen. Zu null nahmen sie den Südafrikanern das erste Aufschlagspiel ab und servierten sich zu einer 5:3-Führung. Bei Aufschlag Ferreira hatten die beiden Deutschen schließlich drei Matchbälle. Und gleich den ersten Matchball nutzten Becker/Stich zum Gewinn der Goldmedaille.
Beide fielen sich um den Hals, umarmten sich, klatschten sich immer wieder ab und strahlten nach dem Olympiasieg wie Honigkuchenpferde. Als erstes bedankte sich das Duo bei Pilic, dem Vater des Erfolges. "Das kann man noch gar nicht richtig in Worte fassen. Ich bin sehr stolz heute. Mein Verhältnis zu Olympia ist goldig", sagte Becker direkt im Anschluss an den Gewinn der Goldmedaille. "Gold kann man nicht planen. Aber wir haben es gewonnen, das zählt", äußerte sich Stich dazu. Bei der Siegerehrung schauten die frisch gebackenen Olympiasieger immer wieder ungläubig auf das goldige Edelmetall - dem Lohn ihrer Arbeit.
Getrennte Wege nach der Goldmedaille
Aus der Zweckgemeinschaft schien eine kleine Freundschaft entstanden zu sein. Doch schon einige Stunden nach ihrem historischen Triumph gingen Becker und Stich wieder getrennte Wege. "Abends wollten wir gemeinsam feiern, mit den anderen auf den Putz hauen - doch ein paar Stunden nach der Siegerehrung flog Michael nach Deutschland zurück. Ich glaube, seine Freundin hat auf ihn gewartet. Ich versuchte noch, ihn umzustimmen, aber er blieb stur: 'Nee, ich habe keine Lust.' Und das, nachdem wir uns vierzehn Tage lang gemeinsam herumgequält hatten, bei bis zu fünfzig Grad im Schatten!", schilderte Becker später in seiner Autobiografie.
Ein gemeinsames Doppel bildeten Becker und Stich nach ihrem Olympiasieg nur noch beim Davis Cup. Nach drei ungeschlagenen Matches kassierten die Deutschen im Davis-Cup-Halbfinale 1995 in Moskau eine bittere Niederlage, die mit dem 2:3-Drama gegen Russland und dem verpassten Jahrhundertfinale gegen die USA endete. An einer möglichen Titelverteidigung bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta waren Becker und Stich nicht interessiert. Die olympische Gemeinschaft hatte ihren Zweck bereits erfüllt.