Buchautor Gerald Marzorati: "Tennis hat mich meinem Körper wieder nahe gebracht"
Gerald Marzorati hat ein bemerkenswertes Buch darüber geschrieben, im fortgeschrittenen Alter noch mit Tennis zu beginnen - und zu versuchen, richtig gut zu werden.
von Florian Goosmann
zuletzt bearbeitet:
30.09.2022, 13:00 Uhr
Gerald Marzorati, 66, veröffentlichte im Frühjahr 2016 das Buch Late to the Ball - einen Selbstversuch darüber, mit Mitte 50 noch etwas Neues zu lernen und gut darin zu werden. Late to the Ball verrät viel über die Psyche im Tennis, die Dialoge mit seinem Coach Kirill gehen weit über das Geschehen auf dem Platz hinaus und verbinden Tennis mit dem Leben. Es ist zudem fantastisch geschrieben, was nicht verwundert: Marzorati arbeitete als Herausgeber des New York Times Magazine, aktuell schreibt er für den berühmten New Yorker über Tennis.
Herr Marzorati, was kam zuerst: Die Idee, mit Tennis im fortgeschrittenen Alter anzufangen – oder ein Buch darüber zu schreiben?
Die Idee, Tennis zu lernen, war zuerst da. Ich habe Tennis schon immer geliebt, bin aber in einer Gegend aufgewachsen, in der keiner spielte. Tennis habe ich im Fernsehen geschaut, die Jahre mit McEnroe, Borg und Connors. Im Hinterkopf hatte ich immer, dass ich es irgendwann probieren könnte. Dann bin ich nach New York gezogen, begann meine berufliche Karriere, heiratete, gründete eine Familie… Erst als meine Söhne in die Highschool kamen, ich also in einem Alter war, wo sie mich weniger brauchten, hatte ich Zeit.
Sie wollten Tennis aber nicht nur zum Spaß spielen. Sie wollten wissen, wie weit Sie es bringen können.
Als ich mit den Trainerstunden begann, dachte ich daran noch nicht. Mein junger Trainer aber hat es sehr ernst genommen. So kam ich an den Punkt, an dem ich wirklich besser werden wollte. Nach ungefähr einem Jahr dachte ich an ein Buchprojekt. Weil ich überlegt hatte, dass es mehr Leute wie mich geben könnte: Menschen, die sich in Richtung Karriereende bewegen und irgendetwas anfangen wollen, in dem sie es ebenfalls zu etwas bringen können. Für die New York Times hatte ich einen kleinen Artikel geschrieben über diesen Plan, und das hat meinen Literaturagenten auf den Plan gerufen.
Ihr Coach Kirill spielt eine große Rolle in Ihrem Buch.
Kirill war zu Beginn unserer Zusammenarbeit nicht viel älter als mein ältester Sohn, 23 oder 24. Er war mit einem Stipendium aus Russland gekommen und ein sehr guter College-Tennisspieler. Mit dem Coaching hat er während des Studiums begonnen. Ein ambitionierter junger Mann – der mittlerweile ein sehr erfolgreicher Immobilienmakler in New York City ist. Als ich ihm mitgeteilt habe, was ich vorhabe, war er sofort bei mir. Wir haben ein Fitnessprogramm ausgearbeitet, ich habe Intervalltraining gemacht, habe mit Plyometrics begonnen… Ich wollte mich in Form bringen. Mit einem anderen Coach wäre es schwieriger geworden.
Die Gedanken und Dialoge zwischen Ihnen beiden sind Highlights des Buches, Sie sprechen viel über Tennis als Parallele zum Leben.
Kirill glaubte daran, dass Tennis einem so viel fürs Leben mitgibt. Dass man auf sich selbst gestellt ist im Einzel, sich verstehen muss, den eigenen Körper. Wie der eigene Geist funktioniert, wenn man die Konzentration oder den Fokus verliert und die Stimmung kippt. Dass man warten muss, bis sich wieder alles bessert, und man nicht in Panik verfällt. Dass man hart kämpfen muss, aber gleichzeitig ein Gentleman sein soll. All diese Sitten und Bräuche hat er sehr verinnerlicht. Nach einer Weile habe ich das auch kapiert.
Wie sind Sie denn so auf dem Platz drauf?
Ich war nie jemand, der seinen Schläger geschmissen hat. Das Schöne daran, wenn man mit einer Sache erst später im Leben beginnt, ist doch, dass man weiß, dass man nie dermaßen gut darin werden kann. Ich ging auf die 60 zu, war in meinem Leben ansonsten sehr erfolgreich, ich brauchte das ja nicht.
Da erlebt man auf dem Platz oft andere Typen.
Ein Mann, mit dem ich es im Buch zu tun hatte, war Bob Litwin – ein Sportpsychologe. Er meinte, mir fehle dieser Ehrgeiz. Er sagte: „Du willst immer freundlich zu den Leuten sein, mit denen du spielst. Du musst sie erst fertigmachen, dann kannst du immer noch nett sein!“ (lacht) Aber das bin nicht ich.
Können Sie gut verlieren?
Ich bin kein schlechter Verlierer. Die einzige Person, auf die ich wütend werde, bin ich selbst. Ich werde wütend, wenn ich das Gefühl habe, nicht so gut zu spielen, wie ich könnte. Wenn jemand besser ist, denke ich: Okay, so sollte es ja sein. Wenn ich gut spiele und gegen einen Besseren verliere – großartig! Aber wenn ich schlecht spiele, viele Fehler mache, bin ich sauer auf mich. Aber ich denke dennoch nie: Ich will nie mehr spielen. (überlegt) Ich bin jetzt 66 Jahre alt, ich liebe Tennis, es ist mein Leben geworden, vom Schreiben bis zum Spielen. Aber es ist eine Sache, die mir Spaß macht, keine Belastung.
Gibt es etwas, das Sie über sich gelernt haben, nachdem Sie mit dem Tennis begonnen haben?
Mehrere Dinge sogar. Ich bin geduldiger geworden. Den Großteil meines Lebens hatte ich keine Geduld, was mir meistens gut getan hat. Zu einem bestimmten Teil muss man ungeduldig sein, um nach vorne zu kommen. Ich hatte die Ambition, ein erfolgreicher Herausgeber eines Magazins zu werden – da musste ich ungeduldig sein. Aber ich war auch zu Hause ungeduldig, mit meiner Frau und meinen Söhnen. Das hat sich verändert. Meine Frau kann das immer noch nicht glauben.
Was noch?
Ich habe eine bestimmte Art von Freundschaften geschlossen, von denen ich nicht geglaubt habe, dass sie mir bis dahin gefehlt hatten. Als ich jung war, habe ich in vielen Sportmannschaften gespielt. Ich war nie sonderlich gut, aber ich war im Team. Diese Kameradschaft habe ich genossen. Das ist etwas anderes als mit Leuten, zu denen man tiefe Freundschaften pflegt. Die habe ich, und sie bedeuten mir sehr viel. Aber mit den anderen, im Sport, da geht es nicht darum, wie es meinen Kindern geht oder meine Ehe verläuft. Das sind Kumpels, die nur spielen und ein Bier danach trinken wollen. Das liebe ich! Und das habe ich eine lange Zeit in meinem Leben nicht gehabt, weil es nach meiner Teenager-Zeit einfach weg war. Mittlerweile genieße ich das wieder sehr.
Wie haben Sie sich körperlich angestellt?
Tennis hat mir aufgezeigt, wie viel ich über meinen Körper nicht wusste. Ich habe mich gefragt, warum etwas Bestimmtes nicht funktioniert. Weil ich nicht genug in die Knie gehe? Und wenn ja, warum tue ich das nicht? Auch die Atmung: Warum atme ich nicht richtig? Bin ich nervös? Bin ich müde? Abgelenkt? Dieses Bewusstsein. Ich habe lange Zeit nur in meinem Kopf gelebt, habe viel gelesen, eben auch beruflich. Tennis hat mich meinem Körper wieder nahe gebracht.
Die Selbstwahrnehmung im Tennis ist ohnehin interessant. Ein Freund von mir glaubt, er schlage seine Vorhand wie Roger Federer. Ich sage ihm jedes Mal: Bei aller Liebe, aber deine Vorhand ist das exakte Gegenteil von Federer...(lacht) Das habe ich auch mitgemacht. Mein Coach hat mich gefilmt und meinte dann: „Nein, du bringst den Schläger eben nicht so weit zurück wie du denkst. Oder lässt ihn beim Aufschlag nicht genug nach unten fallen.“ Es ist psychologisch bewiesen: Sobald man sieht, was man tut, korrigiert man anders, als wenn man es nur gesagt bekommt. Dann ist der Beweis da, dass man ein Problem mit seinem Schlag hat.
Bevor Sie mit Tennis begonnen haben – hatten Sie einen bestimmten Spielstil im Kopf, den Sie verfolgen wollten?
Ich wollte eine einhändige Rückhand spielen. Was in gewisser Weise verrückt ist, sie ist so viel schwieriger zu lernen. Speziell beim Return kann man viel weniger machen. Ich habe so lange gebraucht, sie zu verstehen. Wenn ich gegen jemanden spiele, der viel Spin oder Tempo auf den Ball bekommt, habe ich immer noch ein großes Problem. Aber vom Prinzip habe ich sie mittlerweile drauf. Ein wichtiger Teil ist einfach, wie weit vorm Körper man den Ball treffen muss. Auf der Vorhand kann man im Zweifel etwas mogeln, aber die Rückhand fliegt einem weg.
Wie sieht Ihr Spiel heute aus?
Ich habe zwei Vorteile: Ich bin recht schnell für einen 66-Jährigen. Und Linkshänder. Viele Gegner kapieren das bis weit in den ersten Satz hinein nicht und denken: Wieso spielt der immer eine Vorhand? Bis sie sehen: Oh, der ist Linkshänder, darum! Und es ist ein Vorteil beim Slice-Aufschlag auf der Vorteilseite. In meiner Ü60-Liga sind das viele nicht gewohnt. Selbst wenn sie den Aufschlag zurückbringen, ist das Feld offen. Ja, das ist im Wesentlichen mein Spiel.
Nachdem Ihr Buchprojekt abgeschlossen ist: Welche Ziele haben Sie nun im Tennis?
Das ist eine sehr gute Frage. (überlegt) Ich habe keinen Coach mehr. Ich hatte mich nach einer Weile mehr aufs Doppel konzentriert, aber mein Partner hat sich verletzt und ist weggezogen. Mittlerweile sind auch wir nach New York City zurückgegangen. In der 96th Street gibt es diesen tollen Club mit roten Sandplätzen, dort spiele ich nun. In unserem internen Ü60-Ranking habe ich gerade die ersten drei Matches gewonnen und mich auf den sechsten Rang gespielt. Wer weiß, wenn ich 70 werde und mein Spiel noch beisammen habe… In dem Alter sieht man viele Typen mit künstlichen Hüften und Knie-Bandagen. Womöglich greife ich dann noch mal an! (lacht)
Das Gespräch führte Florian Goosmann in Wimbledon.
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